Wonderland 2.0

Wonderland 2.0

Die Schlange vor dem Eingang zum Wonderland-Club ist heute Nacht besonders lang. Aber ich war noch nie gut im Warten. Außerdem habe ich eine Lieferung. Während hinter mir leises Murren ertönt, mustert die Türsteher-Androidin mich mit kritischem Blick.

„Sonnenbrille? Zu hell heute Nacht, Hatty?“

Ich trage ein Spezialmodell, das Mouse extra für mich angefertigt hat. Aber das muss sie ja nicht wissen.

„Geblendet von deiner Schönheit, Herzogin.“

Über ein Netzwerk von Tattoos, das ihr Gesicht überzieht wie Spinnenweben, huscht das flüchtige Lächeln einer ganz besonders giftigen Art.

„Klappe!“, herrscht sie die Leute in der Schlange an. Alle verstummen augenblicklich.

„Schicker Hut“, sagt sie.

Ich zupfe an meiner neuesten Kreation, einem spitzenbesetzten Zylinder, auf dem eine ausgestopfte Krähe hockt.

„Selbstgemacht.“ Ich halte meine Hutschachtel hoch: „Und hier ist der, den sie bestellt hat.“

„Wann machst du mal einen für mich?“

„Ist in Arbeit.“

Sie winkt mich durch. Ich steige langsam die Treppe hinunter. Früher nannten sie das U-Bahn. Wie Maden gruben sie unterirdische Tunnel und jagten kleine gelbe Wagen hindurch. Die meisten sind während des letzten großen Krieges eingestürzt. Und heute haben wir die Luftgleiter.

An den bröckelnden Wänden prangt selbstleuchtende Graffitti:

Der Jabberwocky war hier

Schlagt ihnen die Köpfe ab

Ülkiger und ülkiger

Jemand hat ein weißes Kaninchen auf den bröckelnden Putz gesprayt. Es trägt einen grinsenden Totenschädel und starrt auf seine kleine Taschenuhr: kurz nach zu spät.

Zuckende Lichter erhellen das Ende des Tunnels, wummernde Bässe kommen näher. Volles Haus heute Nacht. Alles tanzt, hüpft, windet sich ausgelassen. Ich luge kurz über den Rand meiner Sonnenbrille. Sehe schöne, schlanke, gut gebaute junge Menschen in allen Formen, Farben, Aufmachungen und Geschlechtern. Rücke die Brille wieder zurecht. Sehe Greise in bunten Lichtexplosionen stolpern und schlurfen. Das Geschäft läuft gut. Niemand hier ist unter sechzig. Aber alle fühlen sich wie zwanzig.

Wonderland. Der Name des Clubs ist der Name der Droge, auf die alle abfahren, die es sich leisten können. Alle alten, reichen Knacker die gerne wieder jung wären. Aber meine Sonnenbrille sieht durch die Illusion hindurch. Mouse wird sich freuen, wenn ich ihr berichte, dass sie einwandfrei funktioniert.

Ich dränge mich durch die Tanzenden, bis nach hinten durch. Da sitzt sie. Alyce, die Königin der Nacht, inmitten ihrer Schar von Speichelleckern. Allen voran die zwei Eierköpfe.

„Guten Abend, Alyce. Hallo Dum, hallo Dee.“

Alyce hat das starre, faltenlose Gesicht der gut operierten und clever gespritzen. Wer genug Geld hat, kann sich sogar Babyhaut transplantieren lassen. Nur ihre Augen wirken lebendig. Sehr alt und sehr gierig. Sie starrt die Hutschachtel an.

„Sieh an, die Hutmacherin. Na Hatty, holst du uns ein Karnickel aus deinem Hut?“, fragen Dum und Dee gleichzeitig.

Humpty Dumpty, der neben Alyce sitzt, schüttet sich aus vor Lachen. Er fällt von seinem Hocker, rollt zur Seite und steht nicht mehr auf.

Alyce winkt mich heran, ich darf mich auf den freien Platz setzen.

Der DJ legt White Rabbit auf. Jefferson Airplane. Uraltes Zeug. Das ist das Problem. Alyce will nicht loslassen. Keiner will loslassen. Und sie müssen auch nicht mehr.

Ihr Vater, Dr Carroll, hat die Zeitdroge erfunden. Einfach eine kleine rote Pille einwerfen und du fühlst dich wieder jung. Dein Kreislauf wird angekurbelt, deine Hormone spielen verrückt und deine Augen sehen, was sie sehen wollen (nämlich dich selbst und alle um dich herum als jung und schön). Kurzum, Halluzination plus vorübergehende Körperveränderung gleich Party.

Während oben die Jungen versuchen, die Welt einigermaßen beisammen zu halten und eine Zukunft zu gestalten, feiern sich die Alten unten in einer drogenindizierten Pseudojugend langsam (oder schneller) zu Tode. Jedenfalls die, die es sich leisten können.

Wäre ja eigentlich nicht das Problem. Wem haben wir denn die Kriege zu verdanken, wenn nicht den alten, selbstsüchtigen Egomanen?

Das Problem ist, seit kurzem funktioniert es auch andersrum. Eine kleine blaue Pille, und du bildest dir ein, älter zu sein und bereits in einer Zukunft deiner Wahl zu leben. Solarpunk vom feinsten. Kollektives, friedliches Leben, gepowert von Sonnenenergie. Friede, Freude, Eierkuchen.

Kein Wunder, dass die Jungen da scharenweise drauf reinfallen. Aber wenn alle zugedröhnt sind, wer sorgt dann dafür, dass diese Zukunft auch Wirklichkeit wird?

Eben.

„Zeig!“

Alyce winkt herrisch mit spitzenbehandschuhten Fingern. Sie vertickt nicht nur alle Drogen, sie ist auch die treibende Kraft hinter deren Herstellung, seit ihr Vater bei einem seiner Versuche mit psychedelischen Pilzen starb.

Ich öffne die Hutschachtel, schön langsam, mache eine kleine Show daraus.

„Oh!“, staunen Dum und Dee mit offenen Mündern.

Manchmal muss man sich selber loben und diesmal habe ich mich wirklich übertroffen. Der Hut ist eine duftig-gewagte Kreation aus Samt und Seide, mit Spielkarten und Rosen besteckt, von einem ausgestopften Flamingo gekrönt.

Über Alyces glattgespritztes Gesicht huscht eine Bewegung. Sie zieht mühsam die Mundwinkel nach oben … die Andeutung eines Lächelns!

„Gib her!“

Sie grapscht nach dem Hut, setzt ihn sich auf.

„Wunderprächtig!“, sagt Dum.

„Phenomitiös!“, sagt Dee.

„Spiegel!“, fordert Alyce.

Natürlich habe ich einen Handspiegel dabei. Ich kenne Alyce schließlich gut. Während sie ihr Spiegelbild bewundert, stehe ich auf.

„Bleib doch noch!“, sagt Dum.

„Wir haben auch was Feines für dich!“, sagt Dee.

Auf seiner offenen Handfläche liegt eine blaue und eine rote Pille.

„Nee, danke. Ich treffe mich noch mit dem weißen Ritter zum Schachspielen, da muss ich klar sein im Kopf.“

„Schachspielen nennt man das also heutzutage?“, sagt Dum und Dee zwinkert anzüglich.

Ich verabschiede mich. Alyce ist immer noch mit ihrem Spiegelbild beschäftigt. Den Hut wird sie so schnell nicht wieder abnehmen. Hoffentlich.

Wissen Sie, warum Hutmacher verrückt wurden, damals, in der schlechten alten Zeit? Quecksilbervergiftung. Das Zeug steckte in den Filzen und Fellen, die sie benutzt haben. Da habe ich die Idee her. Natürlich benutzte ich kein Quecksilber. Heutzutage gibts ganz andere Sachen, viel feiner, raffinierter, und gut über die Kopfhaut aufnehmbar.

Alyce wird ihr Wunderland betreten und nie wieder herauskommen wollen. Sozusagen eine Dosis ihrer eigenen Medizin. Für immer und ewig.

Damit schlagen wir ihrer Organisation den Kopf ab (im übertragenen Sinn). Ohne Alyce werden sie sich neu sortieren müssen und in die Verwirrung hinein können wir den Drogenring komplett zerschlagen. Man sollte sich eben nicht mit den Rosenrittern anlegen.

Und mit Hutmacherinnen schon gar nicht.

 

 

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Drei Autor*innen, ein Thema, drei Kurzgeschichten. Jeden Montag eine, reihum auf unseren Blogs kostenlos zu lesen, damit eure Woche einen wahrhaft phantastischen Start hat: Das ist #phantastischermontag.

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Die anderen Beiträge werde ich hier nach und nach verlinken.

 

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