Vater

Vater

In der Nacht zum Montag, 7. Februar 2022 ist mein Vater, Peter Wolff, mit 85 Jahren gestorben. Er hat schon einige Jahre mit seiner Parkinson-Erkrankung gekämpft und war zuletzt im Altersheim. Nach einem schweren Sturz und anschließender Operation ist er nicht mehr aufgewacht.

Coronabedingt konnten wir ihn leider zuletzt im Heim gar nicht mehr besuchen (wegen akuter Fälle geschlossen) und im Krankenhaus nur noch vereinzelt.

Es fühlt sich immer noch ganz unwirklich an, ich kann gar nicht richtig fassen, dass er nicht mehr da ist. Es hier aufzuschreiben macht das alles nur geringfügig realer.

Ich vermisse und bedauere es sehr, dass ich ihn zuletzt nicht mehr besuchen, umarmen und streicheln konnte. Mein Bruder hat ihn kurz vorher noch gesehen und mit einer Krankenschwester gesprochen, die meinte, es wäre unmöglich zu sagen, wie viel Vater noch mitbekommen würde. Aber ich bin sicher, er hat gemerkt, dass da jemand war. Ich hoffe es jedenfalls.

Als die Nachricht kam, fühlte ich mich zuerst völlig taub und benommen. Ein wenig bin ich immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Geweint habe ich bisher nur zwei- oder dreimal. Immer dann, wenn mir eine Erinnerung einfiel. Und vor allem, als mir klar wurde, dass er nie wieder in der Sonne sitzen, nie wieder einen Kaffee genießen würde. Es sind die kleinen Dinge, über die ich stolpere. Das ganz große Ding ist diese unüberwindliche Wand, vor der ich nun stehe. Ende. Aus. Nie wieder. So viele nie Wieders.

Und dann habe ich mich mit Büchern eingedeckt. Weil es das ist, was ich tue: im Zweifelsfall gehe ich zur Bibliothek oder in die Buchhandlung.

Die Trauerrednerin Louise Brown erzählt in ihrem Buch Was bleibt, wenn wir sterben von ihren Erfahrungen mit Tod und Sterben. Davon, wie unterschiedlich Trauer ist und dass man sie nicht vergleichen und messen kann. Ich bin ein wenig erleichtert, denn ich dachte, ich müsste doch mehr weinen, er war ja schließlich mein Papa? Aber hauptsächlich bin ich irgendwie immer noch wie betäubt.

Als Trauerrednerin bin ich vielen erwachsenen Kindern begegnet, die ihre verstorbenen Eltern beerdigen mussten. (…) es schmerzt deshalb so, wenn die Eltern sterben, weil sie die ersten waren, die uns im Arm gehalten und angeschaut haben. (…) Weil die Eltern uns zeigen, wer wir sein können oder wer wir nicht sein wollen. Weil wir uns an ihnen orientieren, indem wir ihnen ähnlich werden oder uns von ihnen entfernen. Weil mit ihrem Tod die Anekdoten versiegen, die wir zu ihren Lebzeiten oft nicht mehr hören wollten, die uns Kindern aber einen Blick in vergangene Zeiten eröffnen. Weil der Tod der Menschen, die das eigene Leben ermöglicht haben, etwas in uns frei setzt, egal wie das Verhältnis zu ihnen war; eine Lawine von Emotionen, von denen man gar nicht wusste, dass man sie in sich trägt.“

(Brown: Was bleibt, S. 207-208)

Mein Bruder ist mutig. Er geht auf Pilgerfahrt an die Orte, wo wir gewohnt haben, wandert auf Familien (und vor allem Vaterspuren). Er räumt den Keller aus. Seine Kinder freuen sich über einige von Vaters Pullovern und Sakkos (die Mädchen finden sie schick und möchten sie gerne selber tragen). Ich möchte mich nur zu Hause einigeln und gar nichts damit zu tun haben.

Aber das geht natürlich nicht. Mama braucht Unterstützung, und so gehen wir alle gemeinsam zum Gespräch mit der Bestatterin. Treffen Musik- und Blumenarrangements, suchen eine Karte aus. Und eine Urne. Werden schnell und effizient abgewickelt (ich hätte mir mehr Ruhe, vielleicht einen Kaffee und ein kleines Gespräch gewünscht, aber das war wohl zu viel verlangt). Bekommen eine Rechnung. Der Tod kostet, nicht zu knapp.

Nachts um drei wache ich auf und habe Zukunftsangst. Werde ich auch im Heim enden, wie wird es sein?

Papa hat Jazz-Musik und Glenn Miller geliebt. Er hat früher geraucht (bis er es aus gesundheitlichen Gründen aufgab) und war cool. Er hat gerne gesegelt und meine Mutter in einem Sportverein kennengelernt.

Mein Lieblingsgeschenk von ihm ist ein Buch: Die grüne Wolke. Das war für mich damals ein echter Augenöffner: Kinder, die ihr Leben selbst in die Hand nahmen, die rotzfrech waren und sich von Erwachsenen nichts erzählen ließen! Natürlich hatte ich schon Pippi Langstrumpf gelesen, aber das hier war noch mal ein ganz anderes Kaliber. Das Buch habe ich heute noch.

Beide Elternteile haben meine frühe Leselust gefördert und als Mutter mir meine erste Bibliothekskarte organisierte, war ich sehr glücklich.

Mein Vater und ich waren mal gemeinsam bei einer Lesung mit Gert Fröbe. Dieser trug u.a. Ringelnatz Gedichte vor und wir waren beide schwer beeindruckt von diesem tollen Schauspieler. Von Papa habe ich wohl meine Vorliebe für schrägen Humor geerbt (z.B. Loriot, Heinz Erhardt).

Vielleicht auch mein Faible für alles Englische. Denn die ganze Familie saß gerne gemeinsam vor dem Fernseher, wenn englische Serien im dritten Programm liefen. Zum Beispiel Das Haus am Eaton Place oder die Onedin Linie (es ging um Segelschiffe!)

Vater hat mich immer unterstützt, ob beim Abi machen oder Studium. Mutter meinte, ich würde ja doch heiraten (oder ich sollte doch wenigstens zur Post gehen oder Beamtin werden). Aber von ihm habe ich so etwas nie gehört.

Der älteste von drei Jungs, die Mutter allein, hat sie durch den Krieg und die Nachkriegszeit gebracht, der Vater kam nicht wieder. Hat sich immer verantwortlich gefühlt, wollte alles im Griff haben (was manchmal für alle etwas zu viel war).

Die Beerdigung wird am 15. März stattfinden. Mutter hat eine Trauerrednerin bestellt. Mein Bruder möchte auch ein paar Worte sagen und ich werde ein kurzes Gedicht vorlesen.

Vielleicht Ringelnatz:

Ich hab dich so lieb

Ich habe dich so lieb!
Ich würde dir ohne Bedenken
Eine Kachel aus meinem Ofen
Schenken.

Ich habe dir nichts getan.
Nun ist mir traurig zu Mut.
An den Hängen der Eisenbahn
Leuchtet der Ginster so gut.

Vorbei – verjährt –
Doch nimmer vergessen.
Ich reise.
Alles, was lange währt,
Ist leise.

Die Zeit entstellt
Alle Lebewesen.
Ein Hund bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht schreiben.
Wir können nicht bleiben.

Ich lache.
Die Löcher sind die Hauptsache
An einem Sieb.

Ich habe dich so lieb.

 

Und nun?

Louise Brown schreibt in ihrem oben erwähnen Buch:

Möglicherweise ist das eine Antwort auf die Frage, wie ich lernen kann, mit meiner Vergänglichkeit zu leben. Wie wir alle lernen können, mit ihr zu leben. Mit der Einsicht, dass das Älterwerden eine Chance sein kann zu erkennen, dass ich ohne die Rüstung meiner Jugendlichkeit liebenswert bin. Dass ich ohne meinen Schutzschild aus Disziplin einzigartig bin. Diese Erkenntnis war für mich einschneidend und tröstlich: dass mein Wert nicht von meinem Aussehen oder meiner Leistung abhängt, sondern etwas ist, das tief in mir steckt; etwas Eigenes, das ich nicht ständig optimieren muss. Ich bin ein Mensch mit Hoffnungen und Träumen und, wie alle anderen auch, mit Fehlern. Vielleicht kann ich lernen, großzügiger und mitfühlender mit mir selbst zu sein und damit auch mit meinen Mitmenschen. Denn wir alle kennen die Einsamkeit, die Verlust und Vergänglichkeit mit sich bringen. Die Geschichte, die von mir bleibt, ist noch nicht zu Ende geschrieben.

(Brown: Was bleibt, S. 168)

 

Also: weiterschreiben.

 

 

 

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