Iss mich. Trink mich.

Iss mich. Trink mich.

Jemand hat Alice ermordet. Die arme, kleine, unschuldige Alice. Da liegt sie, auf dem Rasen, wie ein vom Baum gefallenes Herbstblatt. Die Grinsekatze, die auf einem Ast sitzt, guckt nachdenklich auf sie herunter. Das ganze Wunderland ist in Aufruhr. Wer kann es gewesen sein? Doch nicht etwa die rote Königin?

„Kopf ab, hab ich gesagt!“, schrillt diese. „Aber der Kopf ist ja noch dran!“

Das stimmt. Äußerlich sieht Alice unverletzt aus. Die Spielkartenarmee versteckt sich hinter angemalten Rosenbüschen. Sie waren es nicht, keiner von ihnen hatte etwas gegen das Kind. Warum auch? Sie ist ja nur herumgelaufen, hat sich gewundert und Fragen gestellt. Also, wenn es nicht die rote Königin war, wer dann?

Grinsekatz denkt an den Hutmacher. Auf seiner Teeparty gab es genug Gelegenheiten. Vielleicht hat er den Tee vergiftet, oder den Kuchen?

„Nonsens“, sagt der Hutmacher. „Sowohl ich als auch die Maus aßen von allem. Und sehen wir etwa tot aus?“ Er stupst die Maus an, die mit geschlossenen Augen auf der Butter liegt und tatsächlich sehr tot wirkt. Die Maus gähnt.

Grinsekatz stibitzt sich einen Keks.

Nun gut, dann war es mit Sicherheit die Raupe mit ihrem ominösen Pilz. Man weiß doch, was passieren kann, wenn man eine ganz bestimmte Sorte Pilze isst. Die Grinsekatze hat da ihre ganz eigenen Erfahrungen gemacht.

„Diese Seite macht dich größer“, erklärt die Raupe geduldig. „Und wenn du von der anderen Seite abbeißt, wirst du kleiner. Die Wirkung lässt nach einiger Zeit von ganz alleine nach.“ Sie pafft dicke Rauchwolken mit ihrer Pfeife. „Ich sitze hier schon seit ewig und drei Tagen auf meinem Pilz. Und keiner, der davon probierte, ist gestorben.“

Grinsekatz ist bereit, das als Zeugenaussage zu akzeptieren. Bliebe noch die Herzogin, die gerne mit Gegenständen (und Lebewesen) wirft. Hat sie Alice so stark zu Boden geschleudert, dass dieser etwas Wesentliches kaputtgegangen ist?

„Raus!“ Die Herzogin wirft eine Kaffeekanne nach der Grinsekatze und brüllt: „Ich habe dieses unausstehliche Kind seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.“

Die Grinsekatze glaubt ihr. Schon alleine deshalb, weil die Herzogin ansonsten damit angegeben hätte, sich dieses unausstehliche Kind vom Hals geschafft zu haben.

Außerdem hat die Katze einen ganz bestimmten Verdacht, dem sie nachgehen möchte. Sie dreht sich zum Spiegel um.

„Ich glaube, du warst es selber, Alice. Stimmts?“

Alice steht vor dem Badezimmerspiegel und betrachtet ihre Falten. Das feine Netz rund um ihre Augen herum. Die etwas tiefere Furche der Mundwinkel, die ihr das Aussehen eines traurigen Hamsters verleihen. Sie versucht, das Grinsen zu ignorieren, das in einer Ecke des Spiegels schwebt. Jahrelang hat sie nicht mehr ans Wunderland gedacht, und jetzt, wo sie alt ist, wollen die auf einmal was von ihr?

Alice schüttelt den Kopf. Im Nacken knirscht es.

Immer hieß es: iss mich, trink mich. Giraffenhals und Mäusegröße. In einem See ihrer eigenen Tränen ist sie danach noch oftmals geschwommen. Alles andere hat sie nicht mehr geschafft. Sie wurde zu groß und zu unbeweglich für das Kaninchenloch, sie hätte da gar nicht mehr hineingepasst.

„Ich habe mein inneres Kind nicht getötet!“, protestiert sie. „Es ist ganz friedlich eingeschlafen, das sieht man doch.“

Tief drinnen im Spiegel hört man schwach die Bewohner des Wunderlandes protestieren. Die Grinsekatze gibt ein belustigtes Schnauben von sich. Alice sieht, wie langsam deren ganzer Körper im Spiegel erscheint und sie spürt einen kleinen Stich im Herzen.

Manchmal, aus den Augenwinkeln, hat Alice etwas weißes, Flauschiges vorbeihuschen sehen. Aber sie war viel zu beschäftigt gewesen mit dem, was alle anderen das wirkliche Leben nannten. Mit Beruf und Mann und Kindern und Haus und Urlaub und Hobby und Nachbarn und Verwandten und Krankheiten und Unfällen und Dummheiten und Glück und Unglück.

Alles war durch gerauscht, ihr ganzes Leben rauschte so durch. Entscheidungen wurden getroffen, Dinge passierten, Türen schlugen zu und die Möglichkeiten wurden immer weniger, der Ausblick immer eingeschränkter. Kaninchenlöcher gab es dann sowieso keine mehr. Unfreundliche Spiegel hingegen viel zu viele.

Wer ist die alte Frau da drin? Alice hat aufgegeben, die braunen Flecken auf ihrem Handrücken zu zählen.

Iss mich. Trink mich.

Alice hat früher sehr viel Rotwein getrunken und sehr viel Tabletten genommen. Lithium zum Beispiel, und Tavor. Reiß dich zusammen, hat man ihr gesagt. Und Alice riss sich zusammen. Sie ließ sich in eine Klinik einweisen. Sie wollte so gerne funktionieren. Wollte dabei sein, wollte alles so machen, wie es sich gehörte. Das ist ihr nur bedingt gelungen.

Wunderland verblasste langsam. Nur in dem See aus Tränen ertrinkt sie manchmal immer noch. Beinahe.

Jetzt lebt sie alleine und sie hat Angst vor dem Alter, obwohl sie doch schon mitten drin steckt. Fühlt sich ausrangiert und abgeschrieben. Unsichtbar. Jetzt muss sie andere Tabletten schlucken, für den Blutdruck und die Leber und die Diabetes.

Iss mich. Trink mich.

Wunderland findet höchstens noch auf Netflix statt. Aber da kann man nur zugucken, nicht wirklich dabei sein.

„Siehst gut aus mit den grauen Haaren“, meint die Katze im Spiegel.

„Lügner“, sagt Alice.

Die Katze grinst. „Übrigens, schöne Grüße vom Hutmacher. Er lädt dich zu einer Teeparty ein.“

„Zu spät“, flüstert Alice.

Die Katze streckt ihren Kopf aus dem Spiegel heraus und guckt sich um. „Sieht aus wie bei der Herzogin Zuhause.“

Alice hatte in letzter Zeit nicht viel aufgeräumt und geputzt. Keine Lust, keine Kraft, kein Garnichts.

Die Grinsekatzte hüpft elegant aus dem Spiegel heraus. Sie hat sich kein bisschen verändert und ihr Fell glänzt. Gemächlich stolziert sie in Alices Wohnzimmer, betrachtet interessiert das Bücherregal und beschnuppert den Lesesessel davor. Alice tappt ihr langsam hinterher.

„Wirfst du damit?“

Die Katze zeigt auf die Bücher.

„Ich feuere sie manchmal in die Ecke, wenn sie mich ärgern oder langweilen. Aber das passiert selten. Was willst du hier?“

Die Katze setzt sich mitten auf ihren Teppich und beginnt, sich ausgiebig zu putzen. Alice geht in die Küche und setzt den Wasserkessel auf. Dann guckt sie nach, ob noch eine Büchse Thunfisch da ist.

„Liest du mir was vor?“

Alice bringt Tee, Kekse und einen Untersetzer mit Thunfisch ins Wohnzimmer. Wie lebendig sich die Wohnung auf einmal anfühlt.

Sie stellt alles auf dem Tischchen neben dem Sessel ab und nimmt ein Buch aus dem Regal. Die Katze sieht zu und nickt. Alice lässt sich in die weichen Polster sinken. Die Katze macht einen Sprung hinauf (ganz ohne Krallen) und rollt sich gemütlich in ihrem Schoß zusammen. Alice streichelt das weiche, warme Fell, die Katze schnurrt.

Sie schlägt das Buch auf und liest: „Alice war es allmählich leid, neben ihrer Schwester am Bachufer stillzusitzen und nichts zu tun …“

 

 

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Drei Autor*innen, ein Thema, drei Kurzgeschichten. Jeden Montag eine, reihum auf unseren Blogs kostenlos zu lesen, damit eure Woche einen wahrhaft phantastischen Start hat: Das ist #phantastischermontag.

In 2022 lassen wir uns von phantastischen Zitaten zu unseren Geschichten inspirieren. Im Februar kommt es von Lewis Carroll.

Die anderen Beiträge werde ich hier nach und nach verlinken:

Bei C.A. Raven gibt es eine Umwidmung.

Und Maike Stein geht ein Wagnis ein.

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