Mikki

Mikki

„Nun sieh sich mal einer das Schneegestöber an“, sagt die Pflegerin und schiebt meinen Rollstuhl ans Panoramafenster. Mein kleines Gespenst steht draußen im Park neben der alten Eiche und winkt mir zu. „Sieht das nicht wunderschön aus? So friedlich.“

Mein kleines Gespenst heißt Mikki und trägt einen roten Schal. Ich winke nicht zurück. Er steckt die Hände in die Taschen und legt den Kopf schief. Scheiß Schnee, und noch dazu drei Tage vor Weihnachten. Jetzt werden wieder alle durchdrehen und sentimental werden.

„Wir bekommen diesmal bestimmt weiße Weihnachten.“

Na bitte, geht schon los.

„Ich komme dann wieder, wenn es Essenszeit ist.“

Sie tätschelt mir die Schultern und lässt mich vor der Scheibe sitzen. Ich sollte sie nicht Pflegerin nennen. Sie sind Coaches. Gesundheitscoaches. Bah. Vergebliche Liebesmüh. Hier drin haben sie Alzheimer, Demenz, Parkinson, Arthrose, Rheuma und was weiß ich noch alles. Hier wird keiner mehr gesund. Alter ist nämlich nicht heilbar.

Mikki grinst. Er hat gut lachen, er ist ein Kind. Und ich habe mein Verfallsdatum schon lange überschritten. Nicht, dass ich in einem Altersheim wäre, oh nein. Der Ausdruck ist hier streng verpönt. Es ist ein Club, das stelle man sich mal vor. Groucho Marx hat mal gesagt, er mag keinem Club angehören, der ihn als Mitglied aufnimmt. Nun, ich auch nicht. Dem hier jedenfalls schon mal gar nicht. Dummerweise habe ich keine Wahl. Alt, pflegebedürftig, alleinstehend. Ich kann froh sein, dass das Geld noch hierfür gereicht hat. Es gibt schlimmere Orte, um den Rest seiner Tage dahinzudämmern. Wenigstens spielen sie hier im Speisesaal leise Billie Holiday und Louis Armstrong. Dann hört man das ganze Sabbern und Schlürfen nicht so.

Mikki steht immer noch da draußen und guckt mich an. Dass ich ein Gespenst sehe, hat nichts mit meinem Alter zu tun. Nur mit meinen Schuldgefühlen.

Das Erste, was ich damals gedacht hatte, war: Erdbeermarmelade. Aber wer sollte schon Erdbeermarmelade in den Schnee kippen?

Wir hatten eine Bande. Nein, nein, nicht was sie denken. Es war harmlos. Klingelstreiche machen und ein Versteck im Wald bauen. Was Kinder damals ohne Handy und Onlinegames eben so gemacht haben. Und er wollte immer unbedingt mitmachen. Kleine Nervensäge. Kleiner Bruder. Und ich, als der Ältere, sollte immer der Vernünftige sein und auf ihn aufpassen.

Gott, was ist er mir auf den Keks gegangen.

Nach dem Unfall hat sich die Bande aufgelöst. Wir hatten alle keine rechte Lust mehr. Manchmal habe ich von den anderen gehört. Losen Kontakt gehalten über die Jahre (wir sind jetzt die Silver Surfer auf Facebook). Alle sind älter geworden. Haben Kinder gekriegt, mehr oder weniger Karriere gemacht. Unsere Gesichter haben sich in Falten gelegt, die Gemüter sind härter geworden. Und egal, wie gut oder nicht gut, wir haben unsere Leben gelebt. Nur Michael nicht. Mikey Mike, unser kleiner Mikki. Wir haben ihn zurückgelassen im dämmerigen Land unserer Kindheit, zwischen Spielzeugautos und Fußbällen, Bilderbüchern und zerschrammten Knien.

Ewige Jugend.

Immer, wenn die ersten Schneeflocken fallen, denke ich an ihn. Und er scheinbar auch an mich, denn da draußen ist er schon wieder. Wie jedes Jahr im Winter, kurz vor Weihnachten. Aber nur, wenn es schneit.

Damals hat es auch geschneit.

„Warte!“, hat er gerufen. „Warte doch auf mich!“

Ich fahre manchmal immer noch aus dem Schlaf auf (je älter man wird, desto leichter flieht er einen), mit seiner hohen, ängstlichen Stimme im Ohr.

„Wartet doch!“

Wir wollten zum See, Schlittschuh laufen. Später dann ein Fort aus Schnee bauen und uns gegenseitig mit Bällen zuballern. Mikki hatte noch nicht mal Schlittschuhe. Aber meine Eltern hatten darauf bestanden, dass ich ihn mitnehme.

Ich konnte noch nie gut mit Kindern. Wahrscheinlich wollte ich auch deshalb keine. Meine erste Frau hat sich von mir scheiden lassen, als ihr das klar wurde. Meiner zweiten wars egal, aber sie ist mir weggestorben, und ich hatte dann auch keine Lust mehr auf ne neue Ehe.

Wozu auch.

Oh. Mein rechter Arm tut weh. Öfter mal was Neues. Meine Kollegen im Büro haben mir mal ne Geburtstagskarte geschenkt, auf der stand: Wenn du morgens aufwachst, und dir tut nichts weh, bist du tot. Das fanden die witzig. Jetzt ist es nur noch wahr.

Leichte Atemnot ist dagegen nichts Neues. Und dass mein Herz anfängt, schneller zu schlagen, habe ich sicher der Tatsache zu verdanken, dass Mikki näher gekommen ist. Er steht jetzt neben den Bänken, die sie unten im Park für uns alte Knacker aufgestellt haben, und er winkt schon wieder. Jetzt möchte ich nun doch meinen Arm heben, aber das geht gerade nicht. Ich zucke mit den Schultern. Ein heftiger Schmerz durchbohrt meine Brust. Mikki lacht nicht mehr.

Im Laufe der Jahre hatte ich mich an ihn gewöhnt. Meistens habe ich schon nach ihm Ausschau gehalten, wenn die ersten Flocken fielen. Ich glaube nicht, dass er mich heimsucht, weil er wütend ist. Da ist nichts Böses oder Aggressives in seiner Anwesenheit. Ich glaube eher, dass er vorbeischaut, um zu sehen, wie es mir geht. Mikki hat mich sehr liebgehabt. Und ich bin sicher, dass er weiß, dass es mir genau so geht.

Auch, wenn ich an jenem Tag keine Lust und keine Geduld mehr mit ihm hatte. Auch, wenn ich als einziger zurückgeblieben bin und auf ihn gewartet habe. Nur, um ihm dann ein Bein zu stellen. Er sollte endlich einsehen, dass wir ihn heute nicht dabei haben wollten. Er sollte nur in den weichen Schnee fallen, nichts weiter. Ich hab doch nicht gesehen, dass unter dem Schnee dieser spitze Stein versteckt lag. Ich konnte doch nicht wissen, dass er so schwungvoll und unglücklich fallen würde.

Erdbeermarmelade.

Oh. Der Schmerz lässt nach. Ich atme vorsichtig durch und fühle leichte Traurigkeit in mir aufsteigen. Schade. Mich hält hier nichts mehr. Keine Frau, keine Kinder, kein Hund. Die Hälfte der Bande ist schon längst mausetot, bei der anderen Hälfte dauert es nicht mehr lange.

Ich habe keiner Menschenseele gesagt, was ich getan habe. War zu feige. Hab alle Schuld auf Mikki geschoben, der, wie jeder wusste, immer sehr ungeschickt gewesen war.

Die Schuld hat sich in meiner Brust verhärtet, bis sie zu einem Stein wurde, den ich jetzt mein ganzes Leben lang herumschleppe.

Nanu, wo ist Mikki hin? Gerade mal nicht aufgepasst, und schon ist er verschwunden. Normalerweise bleibt er, bis ich einschlafe. Aber der Platz neben den Bänken ist leer. Ich hoffe, er kommt morgen wieder.

Verdammt, der Schmerz ist wieder da. Heftiger als zuvor. Wenn das nicht aufhört, dann geht irgendwas in mir endgültig kaputt. Etwas, das nicht mehr repariert werden kann. Etwas, das … oh. Der Stein. Der elende, schwere, hartnäckige Stein geht kaputt. Das ist … ich fühle mich ganz leicht. Endlich, endlich ist er weg. Endlich …

Ein roter Schal. Ein Lächeln.

„Hallo, Mikki. Warte auf mich.“

 

 

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