Langfinger
Ich stehe vor dem Supermarkt. Eigentlich wollte ich mir nur Zigaretten kaufen, aber diese Chance kann ich nicht ungenutzt vorüberziehen lassen. Es ist Halloween und es gibt keine Zufälle.
Die alte Hexe hat sowieso selber schuld. Ich meine, es heißt ja nicht umsonst, Gelegenheit macht Diebe, oder? Sieh doch nur, wie sie da ihr Fahrrad quer über den Parkplatz schiebt. Guckt nicht links, nicht rechts. Träumt irgendwas vor sich hin. Denkt vielleicht an die Kinder, die zu Hause im Holzverschlag auf sie warten. Ob sie schon fett genug sind zum Schlachten, oder ob sie sie noch etwas mästen muss. Ich tippe ja auf Mästen. Sie hat die ganze Einkaufstasche vollgestopft mit Süßigkeiten.
Ein kleines Skelett und zwei Mini-Zombies laufen kichernd vorbei. Lauft, Kinder, lauft. Rettet euch vor der Hexe. Hö hö.
Schwarze Klamotten, schwarze Handtasche. Oh ja, diese schöne, dicke schwarze Handtasche. Hab gesehen, wie sie an der Supermarktkasse ihr Portemonnaie hineingesteckt hat. Hab auch gesehen, wie sie vorher da die Scheine reinstopfte. Ihr Wechselgeld. Und wo ist die Handtasche jetzt? Dreimal dürft ihr raten. Ja, genau. Steckt hinten in ihrem Fahrradkorb drin. Und die Henkel ragen nach oben. Es ist so einfach, dass es fast schon eine Beleidigung meines Könnens darstellt. Man muss nur fix zugreifen.
Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.
Meine Mutter hat mir früher immer vorgelesen. Märchen, meistens. Und wer glaubt, Märchen sind was für Mädchen und Memmen, der hat sich mächtig geirrt. Da wird dann schon mal eben ner Jungfer die Hände abgehackt und der wilde Wald war wirklich wild. Mord und Totschlag und zwischendrin noch ein bisschen Foltern. Ich fands cool. Mutter meinte, das wäre die richtige Vorbereitung fürs Leben. Ich hab tatsächlich was gelernt aus den Märchen. Und zwar, dass du schlauer sein musst als die bürgerlichen oder königlichen Besserwisser und Heldensöhne. Außerdem, wer schon in Luxus auf irgend ner Burg vor sich hin rotten, womöglich mit ner dauernörgelnden, total verwöhnten Prinzessin an der Seite?
Nee, ich will Freiheit und Abenteuer. Ich bin für das Leben auf der Straße gemacht. Hauptsache, keine stupiden Jobs, Gleichförmigkeit und Langeweile. Ich bin der freie Geist, der Räuber im Wald. Ich bin der Fuchs, nicht das Kaninchen. Der Falke in der Luft, nicht die dumme Taube.
Ja, das habe ich übrigens neulich auf dem Markt gesehen. Ein belebter Platz mitten in der Stadt, und am Rand picken die Tauben im Abfall rum. Da raschelt es im Baum nebenan und dann gehts ganz schnell. Kommt ein Falke raus, pfeilgerade runter, schnappt sich ne Taube. Kurzes Gerangel, heftiges Federlassen und zack ist er mit seiner Beute wieder weg. Mitten in der Stadt! Hat ihn kein bisschen gestört, der war ganz cool.
So läuft das.
Also schlendere ich unauffällig hinter der alten Hexe her. Gucke links und rechts. Sind gerade nicht viele Leute unterwegs, der Bürgersteig ist leer. Die alte Hexe guckt in die Schaufensterscheibe eines Cafés, das mit grinsenden Kürbissen, flatternden Fledermäusen und Spinnennetzen dekoriert ist. Pumpkin-Spice-Latte. Bah. Ich schüttele mich heimlich. Wie kann man so was nem einfachen, perfekten Kaffee antun? Wenn sie da jetzt reingeht, hab ich Pech gehabt.
Sie geht vorbei. Zwischen den parkenden Autos hindurch, auf den Fahrdamm. Sie will aufsteigen und wegfahren! Ich mach zwei schnelle Schritte und greife in ihren Fahrradkorb. Flutscht wie geschmiert. Niemand hat was bemerkt. Sie schwingt sich auf ihr Rad und strampelt davon. Guckt sich nicht einmal um. Ich hab die Handtasche und sie keine Ahnung.
Jetzt schnell, auf den Parkplatz zurück. Hier, am Zaun zur S-Bahn, hinter einem Baum versteckt, gucke ich rein. Volltreffer. Portemonnaie, Schlüssel, Handy, Brille, schwarzer Taschenkalender. Weniger Bares als ich dachte. Aber das Handy sieht neu aus, das kann ich verticken. Den Rest schmeiß ich weg. Mit der Bankkarte rummachen und Unterschrift fälschen oder so ist mir viel zu anstrengend. Einbruch ebenfalls. Ich wühle ein wenig tiefer in der Tasche. Vielleicht gibts ja noch Schmuck, einen abgelegten Ring oder so … Aua!
Irgendwas hat mich in den Finger gepikst. Ich zieh ihn raus, er blutet. Ich steck ihn mir in den Mund und nuckele daran. Auf dem Boden der Tasche liegt ein Püppchen. Sieht selbstgemacht aus. Hässliches, grinsendes Ding mit spitzen Zähnen. Bah. Wer macht denn so was? Und warum kommt mir plötzlich das Wort ‚Wächter‘ in den Sinn? So ein Blödsinn. Wird Zeit, dass ich die Tasche loswerde. Am besten, ich werfe sie gleich hier über den Zaun ins Gebüsch an den S-Bahn-Gleisen. So. Da findet sie so schnell keiner.
Jetzt geh ich mir erst mal Zigaretten kaufen. Dann ein Bierchen oder zwei und dann… Bah. Mir ist irgendwie komisch. Schwindlig. Ich bleib besser mal kurz hier, an den Baum gelehnt. Tief durchatmen. Die Taube beobachten, die neben dem alten Fiat da vorne an einer Kippe herumpickt. Blöde Viecher.
Mir ist übel. Meine Schultern schmerzen. Gräßlich. Als würde was von innen rausbrechen wollen. Was ist das, was soll das? Mein ganzer Körper krümmt sich, das Pflaster kommt näher, etwas raschelt, federleicht…
Die Taube glotzt. Ich glotze zurück. Auf Augenhöhe. Sehe einen angebissenen Keks liegen, gleich da vorne, den hat sie noch gar nicht entdeckt. Blöde Viecher. Ich bewege mich ruckartig vorwärts. Die Kippe ist uninteressant, aber der Keks …
Halt mal. Moment. Augenhöhe? Keks statt Kippe? Ich drehe mich um. Sehe hinter mir das Püppchen liegen und grinsen. Es ist gewachsen. Nein, ich bin geschrumpft. Ich bin … gurr, gurr. Ich schüttele meinen Kopf, schlage verärgert ein paarmal mit meinen Flügeln. So ein Mist. Für mich sind alle alten Frauen ab 40 Hexen. Kann ich doch nicht wissen, dass sie tatsächlich eine ist.
Über mir im Baum raschelt es. Die andere Taube guckt rasch hoch und macht dann nen Abflug.
Ich verstehe das nicht. In den Märchen gewinnt die Hexe nie. Sie landet im Backofen, da, wo sie hingehört.
Ich gucke hoch. Sehe geradewegs in die kalten dunklen Knopfaugen des Falken, der seine Krallen schon nach mir ausgestreckt hat.
Scheiß Halloween.
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Im Oktober dreht sich bei uns alles um Halloween (oder auch Seifenblasen). Jeden Montag eine neue Shortstory von einem anderen Autor.
Hier die von C.A. Raaven: Anima Amoris.
Maike Stein macht sich Gedanken über Die Geister, die ich rief.
Bei Alexa Pukall haben zwei Kürbisse ein Problem: Oktober – Samhain
Was es mit unserer Story-Aktion auf sich hat, erfahrt ihr hier: #phantastischermontag
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