Imagine

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Royn stieg die Wendeltreppe zum Turmzimmer empor. Er war ein alter Kämpfer, erfahren auf den Schlachtfeldern, erprobt im Überlebenskampf. In seinem narbigen Gesicht funkelten ein paar nachtblaue Augen, die schon viel zu viel gesehen hatten.

Dies hier würde sein letzter Auftrag sein. Danach sollte er sich mit drei Goldstücken zur Ruhe setzen. Royn schnaufte leise. Seine Knie machten ihm zu schaffen. Verdammt viele Stufen. Warum man die Verräterin ausgerechnet in den höchsten Turm des Schlosses gesperrt hatte, begriff er nicht.

Und warum der König und seine Berater ausgerechnet ihn ausgesucht hatte, ebenfalls nicht. Er war ein Soldat. Kein Mörder. Da bestand in seinen Augen ein ganz erheblicher Unterschied. Aber dies, so war ihm gesagt worden, sei ein ganz besonderer Auftrag. Und er war nun mal Gehorsam gewohnt.

Oben vor der schweren Eichentür angekommen verschnaufte er erst mal. Durch ein schmales Fensterchen fielen die Strahlen der herbstlichen Abendsonne. Royn spürte einen Hauch von Winter in den Knochen. Soldaten sollten nicht alt werden dürfen. Er hätte schon längst auf dem Schlachtfeld sterben müssen, das wäre wenigstens ehrenhaft gewesen. Stattdessen würde er jetzt irgendwo im Ruhestand langsam dahinsiechen dürfen. Eine zweifelhafte Ehre, Goldstücke hin oder her.

Royn zog sein Schwert. Dann erst schob den Bronzeschlüssel in das Schloss und öffnete langsam die Tür.

Die Feinde des Königreiches waren seine Feinde. Und Verräter konnte er schon gar nicht dulden.

Royn trat ein und zog sofort die Tür wieder hinter sich zu.

Das Turmzimmer war klein, rund und enthielt nicht viel. Ein hölzerner Tisch, ein Stuhl und ein schmales Bett an der Wand. Ein großes Fenster bot einen weiten Ausblick über das Land. Einen Moment lang wünschte sich Royn von allem fort. Fliegen müsste man können, dachte er. Fliegen, und nie wieder zurückkommen. Frei sein.

Die Abendsonne tauchte alles in blutrotes Licht. Auch die kleine Gestalt, die auf dem Bettrand saß und ihm aufmerksam entgegensah.

Die Verräterin war ein Mädchen in einem blauen Kleid, mit kurzen, kastanienfarbenen Haaren und großen braunen Augen. Sie hatten ihm gesagt, dass ihre bloße Existenz das gesamte Königreich bedrohen würde. Sie hatten ihm nicht gesagt, dass sie noch ein Kind war.

Sein Schwertarm senkte sich von allein. Royn schüttelte über sich selbst den Kopf. Auftrag war Auftrag. Er hob das Schwert wieder.

„Hat dich der König geschickt?“

Ihre Stimme war klar und hell. Nur ein kaum merkliches Zittern lag darin.

Royn nickte. Er räusperte sich und sagte:

„Es wird ganz schnell gehen. Du wirst es gar nicht spüren. Du wirst gar keine Zeit haben, etwas zu spüren, das verspreche ich dir.“

Dieses Versprechen würde er halten. Töten war sein Geschäft, und er verstand sein Handwerk. Sicher hatten sie ihn deswegen geschickt.

Das Mädchen nickte. Ihre Hände hatten sich in der Bettdecke verkrampft. Royn trat zögernd einen Schritt näher. Er hatte noch nie einen Befehl angezweifelt, er hatte noch nie Fragen gestellt. Jedenfalls nicht laut. Und er hatte noch nie, in all den Jahren nicht, ein Kind getötet.

„Sie haben alle Angst vor mir“, flüsterte das Mädchen.

Er sah auf ihren schmalen Körper hinab. Kaum vorstellbar.

„Warum?“

„Im Sommer, als wir die große Hitze hatten, da habe ich mir vorgestellt, es würde schneien. Einfach nur zur Abkühlung. Und dann brach ein Schneesturm über uns herein.“

Royn erinnerte sich. Schnee im Sommer war zwar merkwürdig, aber sicher nicht unmöglich. Was wollte sie damit sagen?

„Meine Mutter hat immer geschimpft, ich hätte eine zu lebhafte Fantasie. Sie hat mich geschlagen, wenn ich wieder mal wieder geträumt hatte. Und eines Tages habe ich mir einfach vorgestellt, sie würde keinen Arm mehr zum Schlagen haben.“

Royn hatte von seinem Vater immer kräftig Prügel bezogen. So war das bei Jungen eben üblich. Aber man schlug keine Mädchen.

„Und dann?“

„Ist ihr der Arm abgefallen.“

Die Kleine wollte sich über ihn lustig machen. Oder?

„Sie ist gestorben“, flüsterte das Mädchen. „Das wollte ich nicht. Die Leute aus dem Dorf haben mich mit Steinen beworfen und angeschrien. Das war furchtbar. Sie sollten aufhören! Und das haben sie dann auch. Sie haben mit allem aufgehört.“

Royn spürte, wie ihm ein Schweißtropfen langsam über das Gesicht rann. Er packte den Griff seines Schwertes fester.

„Ich habe das nicht gewollt!“ Das Mädchen hatte rote Wangen und seine Augen glänzten feucht. „Aber manchmal, wenn ich mir Sachen vorstelle, dann passieren sie auch.“

Royn hatte von der Vernichtung des Dorfs gehört. Dem unerklärlichen Tod seiner Einwohner. Das war doch nicht möglich. Oder?

„Es funktioniert nicht immer. Aber meistens dann, wenn ich ganz viel fühle.“ Sie hob das tränennasse Gesicht zu ihm. „Ich weiß nicht, wie ich es kontrollieren soll.“

Ihr Blick fiel auf das Schwert. Sie nickte und kniff die Augen zusammen. Royn schluckte. Was würde sie jetzt mit ihm machen? Und vor allem, was sollte er jetzt tun? Er hätte sich gar nicht erst auf ein Gespräch einlassen sollen. Er hätte sofort zuschlagen sollen. Aber, ein Kind …? Selbst eines mit diesen Fähigkeiten (wenn es denn stimmen sollte)?

Nichts geschah.

Unvermittelt begriff er, warum man ihn geschickt hatte. Er tat normalerweise nicht nur, was man ihm befahl. Sondern er war vor allem alt und damit entbehrlich. Im Falle seines Misserfolges hätte man sich sogar drei Goldstücke gespart.

Royn ließ das Schwert wieder sinken. Das Mädchen blinzelte, riss dann die Augen wieder auf. Sie seufzte.

„Hast du schon mal versucht, es zu kontrollieren?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich traue mich nicht.“

„Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, fliegen zu können“, sagte Royn nachdenklich.

Ihr Blick glitt über das weite Land jenseits des Fensters. „Ja, das wäre schön.“

Sie machte eine Bewegung, Royn trat unwillkürlich einen Schritt zurück und hob sein Schwert wieder. Doch sie hatte nur ihre Arme ausgebreitet. Die Handflächen zeigten nach unten. Ein seliges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie schloss die Augen.

Um das Mädchen herum begann die Luft zu leuchten und zu flirren. Es war, als würde man an einem Sommernachmittag in den Himmel schauen. Royn blinzelte. Der helle Schein verging. Er öffnete die Augen wieder.

Auf dem Bettrand saß eine weiße Taube. Sie legte den Kopf schief und sah Royn an.

Er nickte. „Gut gemacht. Aber ein Falke wäre besser gewesen. Tauben sind so schutzlos da draußen. Und du brauchst einen Beschützer.“

Die Taube plusterte ihr Gefieder auf. Royn spürte eine angenehme Wärme in seine rheumatischen Glieder fließen. Das Schwert entglitt seiner Hand. Er hatte sich schon lange nicht mehr so wohlgefühlt. Als würde er in warmem, lebendigen Sonnenlicht gebadet werden. Die Jahre fielen von ihm ab, und alles andere auch.

Es ging sehr schnell.

Die Taube streckte probeweise ihre Flügel. Sie flatterte hinüber zum Fenstersims und ließ ein aufmunterndes Gurren hören.

Der Falke schüttelte sein Gefieder. Er sah sich verwundert um. Die Taube gurrte erneut. Der Falke streckte seine Flügel aus.

Gemeinsam flogen sie in die anbrechende Dämmerung.

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Ein neues Jahr voller phantastischer Geschichten liegt vor uns. Wir machen weiter (mehr dazu hier) und haben uns gleich zwei neue Themen ausgesucht: Zitate und (an jedem fünften Montag) Fabelwesen.

Im Januar beginnen wir mit einem Zitat von N.K. Jemisin:

Christian Raabe nimmt uns mit zu einem ganz besonderen Schönheitswettbewerb.

Und bei Maike Stein scheint es Unvorstellbar zu sein.

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