Herzlos
Es war einmal …
… in einem Land neben unserer Zeit, als die Flüsse rein waren und die Luft nach Lavendel und Honig duftete, da lebte ein Mann, der Herzen sammelte. Ein schöner, charismatischer, charmanter Mann, dessen Augen so dunkelblau und weit wie der Nachthimmel schienen und dessen Lippen aussahen, als würden sie nach Marzipan schmecken und alle Lust der Welt bereiten.
Er zog alle an, egal ob sie Männer oder Frauen waren oder nichts dergleichen, oder auf Geschlechterrollen pfiffen. Sie neigten ihre Gesichter in seine Richtung, wie die Sonnenblumen auf dem Felde zur Sonne aufsahen und sehnsüchtig ihre warmen Strahlen erwarteten.
Ihre Herzen flogen ihm zu, sie wurden ihm zu Füßen gelegt, mit Blumen überreicht, in Balladen gesungen, in kostbare Stoffe gewebt, in köstliche Kuchen gebacken.
Er nahm sie alle an.
Der Mann wohnte auf einem Hügel am Rand einer großen Stadt. Sein Haus war prächtig, pompös, prunkvoll. Das Herzstück, buchstäblich, war die Bibliothek. In polierten Regalen aus alten Hölzern gefertigt reihten sich die kostbaren Einbände, Rücken an Rücken.
Jeden Nachmittag, pünktlich zur Teezeit, saß der Mann in seinem Lieblingssessel, auf einem kleinen Tisch neben sich ein Kännchen aus feinstem Porzellan, in der Tasse dampfte köstlicher grüner Tee. Jeden Nachmittag blätterte er in einem anderen seiner Bücher und keines von ihnen enthielt Buchstaben.
Denn jedes einzelne enthielt Herzen.
Fein säuberlich gepresst und getrocknet.
Nichts anderes war ihm eingefallen, nichts wusste er anzufangen mit all der Liebe und Hoffnung, die ihm entgegengebracht wurde, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Er begriff die Liebe nicht, er begriff die Herzen nicht. Bestand er doch selbst nur aus einer leeren Hülle. Nichts innen drin, nur Verpackung drumherum. Herzlos.
Aber er blätterte durch die Seiten, strich hin und wieder über ein vertrocknetes Herz und haschte nach Gefühlen. Wie es wohl wäre, so eines in der eigenen Brust schlagen zu fühlen? Und es dann freiwillig zu verschenken?
Währenddessen wurde es immer unruhiger im Land. Mehr und mehr Lebewesen, ihrer Herzen beraubt, wurden erst traurig, dann melancholisch, dann gleichgültig oder sogar aggressiv. Viele arbeiteten nicht mehr und sahen ihr Leben als sinnlos an. Manche kamen und hämmerten an seine Tür, klopften an die Fensterscheiben. Ein Aufstand drohte.
Und alles seinetwegen.
Eines Abends löschte der Mann das Licht im Haus, schloss Fenster und Türen und ließ die Nachricht verbreiten, er wäre fort. Bekleidet mit einem dunklen Umhang, die Kapuze tief über das Gesicht gezogen, ging er in den nächtlichen Wald.
Vom Himmel herab betrachtete ihn sehnsüchtig ein blasser Mond und wünschte sich auf die Erde herunter. Der Mann stolperte durchs Unterholz, unter Bäumen hindurch, die leise seufzend mit ihren Ästen durch sein Haar fuhren. Eine Fledermaus küsste zart seinen Nacken. Eine Eule sang ein klagendes Liebeslied.
„Genug!“, rief der Mann. „Genug!“
Um ihn herum senkte sich Stille herab. Vor ihm öffneten sich die Bäume geräuschlos zu einer kleinen Lichtung. Auf der Lichtung hockte ein verwittertes, krummes Häuschen und darin wohnte die Hexe. Des Mannes Schritte hatten ihn an den einzigen Ort geführt, an dem er Hilfe erwarten konnte.
Knarrend öffnete sich die Tür.
„Was willst du von mir, Herzlos?“
Die Hexe hatte lange graue Haare, die sie zu einem Zopf geflochten trug. Ihre dunklen Augen musterten den Mann von oben bis unten. Sie schnalzte anerkennend mit der Zunge.
„Nimm diese verflixte Anziehungskraft von mir“, bat er. „Ich gebe dir alles, was du willst.“
„Auch deine Herzensammlung?“
Er zögerte, dachte an all die Lebewesen. „Was willst du damit?“
In ihren Augen glomm ein dunkles Feuer. „Das braucht dich nicht bekümmern, du hübscher Mann. Aber sag, warum genießt du es nicht? Zum Anbeißen siehst du aus …“
Sie rückte immer näher, streckte eine Hand aus, als wolle sie seine Wange streicheln. Ihr Gesichtsausdruck wurde weich und sehnsuchtsvoll. Mit Schrecken erkannte der Mann, dass auch die Hexe ihm verfallen war.
„Nein!“
Abrupt drehte er sich um und rannte in den Wald zurück. Die Klagelaute der Hexe verwehten hinter ihm. Weiter und immer weiter drang er vor zum Herzen des Waldes, erklomm einen kleinen Hügel, sah über die Baumwipfel hinweg und spürte die Strahlen des Mondes seine Wangen liebkosen.
„Genug“, sagte der Mann erschöpft.
Er ließ sich dort fallen, wo er gestanden hatte. Mit dem Rücken im weichen Gras sah er zum Himmel auf, die Sterne funkelten interessiert auf ihn herunter. Die Fledermaus war wieder da, knabberte an seinem linken Ohrläppchen. Ein Fuchs erschien, leckte seine rechte Hand. Eine Eule ließ sich auf seiner Brust nieder. Mäuse wuselten durch seine Haare. Immer mehr Kreaturen des Waldes strömten herbei, liebten ihn, wollten einen Teil von ihm, hatten ihn zum Fressen gern.
Herzlos ließ es geschehen. Sie fraßen ihn auf und es tat nicht im Geringsten weh.
Sein Blut sickerte in die Erde und über Jahr und Tag wuchs ein neuer Baum auf dem Hügel im Wald. Des Sommers trug er rote, herzförmige Blüten und es verbreitete sich alsbald die Kunde, dass der bloße Duft dieser Blüten gebrochene Herzen heilen konnten.
Lebewesen pilgerten von nah und fern herbei, brachten kleine Gaben mit, hingen bunte Bänder in den Baum mit Herzenswünschen.
Stück für Stück verschwanden die gepressten Herzen aus den Büchern in seiner Bibliothek, das Haus verwahrloste, Türen und Fenster standen auf. Natur zog ein, Tiere nisteten in den Regalen und die Herzen zerfielen, lösten sich auf, fanden Stück für Stück zu ihren früheren Leben zurück.
Der Baum wuchs und gedieh, reckte sich zum Himmel und wars zufrieden.
Und wenn wir ihn nicht abgeholzt haben, steht er immer noch mitten im Wald.
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Phantastischer Montag: Neues Jahr, neue Geschichten, jeden Montag eine, reihum auf unseren Blogs zu lesen. Damit euer Montag ein wenig phantastischer werden möge, haben sich drei Autor*innen zusammengefunden. Wer wir sind und was euch erwartet, steht hier nachzulesen: Phantastischer Montag 2023. Alle Storys werde ich hier nach und nach verlinken.
Im Januar schreiben wir Märchen. Dazu hat Maike Stein eine kleine Einleitung verfasst: Märchen.
Die anderen Storys sind hier verlinkt:
C.A.Raabe macht den Anfang und meint Siehste!
Maike Stein überreicht uns Das Geschenk.
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