Heimaterde

Heimaterde

Ein Streichquartett spielte diskret Mozart im Hintergrund. Im Vordergrund feierte man sich selbst. Chanel lehnte sich kichernd an Hugo Boss, Dior funkelte neben einem lässigen Armani und Veuve Cliquot löste jedem die Zunge. Ein Ministerpräsident beäugte eine Schauspielerin, ein Bankmanager beäugte einen der hübschen jungen Kellner. Alle beäugten mehr oder weniger diskret Viv. Es roch nach Luxusparfüms und Fingerfood. Viv strich über das kleine Medaillon an ihrem Hals. Sie langweilte sich dezent.

Auf der Party des Bürgermeisters schien jeder, der etwas war, oder sich zumindest einbildete, etwas zu sein, anwesend. Die Luft war dick von Hoffnungen, Versprechungen, Lügen und Gier.

Nichts, was sie nicht schon gesehen hätte.

Eine unwillkürliche Müdigkeit überkam sie, eine Sehnsucht nach Ruhe und Frieden.

„Sie trinken ja gar nichts. Darf ich Ihnen einen Champagner bringen? Oder möchten Sie vielleicht lieber ein Mineralwasser?“

Ah, hier war etwas, oder besser jemand, den sie noch nicht gesehen hatte. Ein junger Mann in einem schlecht sitzenden Anzug, mit Hoffnung in den Augen und einem unsicheren Lächeln im Gesicht.

„Wie aufmerksam von Ihnen, Herr …?“

„Reuter, Maximilian. Sie können mich Max nennen, Frau Alucard.“

Viv reichte ihm ihre Hand, er beugte sich zu einem angedeuteten Kuss darüber. Gute Manieren, schlechter Haarschnitt. Aber er hatte seine Hausaufgaben gemacht.

„Ich nehme Champagner.“

Sie sah ihm nach, wie er sich geschickt durch die Menge fädelte. Er war so jung, so flink und kräftig. Sie fühlte sich gleich doppelt so alt, wie sie wirklich war. Jeder, der sie anblickte, sah eine guterhaltene Mittvierzigerin. Doch in Wirklichkeit …

„Bitte sehr.“

Max reichte ihr eine Champagnerflöte mit munter perlendem Inhalt. Viv dankte und stieß mit ihm an. Sie hegte keinerlei Illusionen darüber, was er wirklich von ihr wollte. Aber sie fühlte sich alt und müde, und er war der einzige Lichtblick des Abends.

„Sie gehören nicht hierher, oder, Max?“

Er nahm trotzig einen großen Schluck Champagner.

„Sie auch nicht.“

Viv fühlte sich tief in ihrem Herzen erkannt. Vielleicht war dieser ja wirklich anders als alle anderen vor ihm?

„Beziehungen wollen gepflegt werden“, antwortete sie. „Ab und zu muss ich mich mal blicken lassen. Nicht, dass jemand denkt, ich wäre gestorben.“

„Ich bin sicher, Sie werden ewig leben“, sagte Max mit champagnerfunkelnden Augen.

Viv verzog ihre blutroten Lippen zu einem feinen Lächeln.

„Gehen wir ein Stück.“ Sie führte Max durch die offenen Flügeltüren hinaus in den Garten. Unterwegs stellte sie unauffällig ihr volles Champagnerglas auf ein Beistelltischchen. „Also, Max, was tun Sie so?“

„Ich bin Maler.“

Keine Schmeichelei, keine Unsicherheit mehr in der Stimme. Hier kam seine volle Leidenschaft zum Einsatz, hier war er ernst und in seinem Element. Und da war auch schon ein Smartphone, herausgezogen aus seiner Anzugtasche, bunt leuchtend, vor Farben überquellend.

„Fotos werden den Bildern nicht gerecht, aber damit Sie einen Eindruck kriegen …“

„Nicht so schnell, junger Mann.“

Vivs Stimme klang kalt in der lauen Nachtluft. Max zuckte zusammen, sein Übereifer erlosch. Sein Gesichtsausdruck erinnerte Viv an ein geprügeltes Hündchen.

„Entschuldigung. Ich habe mich heute Abend nur hier hereingeschlichen, um Sie zu sehen.“

Das hatte Viv sich schon gedacht. Sie schlenderte auf einem Pfad, der ab und an von kleinen Laternen beleuchtet war, tiefer in den Garten hinein, er trottete mit gesenktem Kopf neben ihr her. Zumindest gab er nicht sofort auf. Gut für ihn.

„Was wissen Sie über mich, Max?“

Er antwortete nicht sofort. Sie mochte das.

Um die beiden herum duftete es nach alten Rosen und feuchter Erde.

„Sie sind ein Geheimtipp.“

„So geheim scheinbar nun auch wieder nicht.“

„Ich habe nur durch Zufall von Ihnen erfahren. Eine Kunstmäzenin alter Schule, die sich in großen Abständen immer mal wieder junge Protegés sucht. Vielversprechende Künstlerinnen oder Künstler, die sie tatkräftig unterstützt. Und alle haben Erfolg.“

Natürlich wollte er Geld. Aber auch sie wollte etwas.

„Ich weiß nicht, woran es liegt“, fuhr Max fort. „Aber sie haben ein untrügliches Gespür für Schönheit und Können. Zum Beispiel dieses Medaillon, das sie tragen …“

Vivs rechte Hand griff unwillkürlich nach dem kleinen, elegant geschmiedeten silbernen Behältnis.

„Es ist ein ganz wunderbares kleines Kunstwerk.“

„Es erinnert mich an meine Heimat“, sagte Viv.

„Heimat!“ Max begann, aufgeregt zu gestikulieren. „Das ist das Thema meiner neuesten Arbeiten. Wo fängt Heimat an, wo hört sie auf, wohnt sie in uns?“

Viv betrachtete ihn von der Seite, während er begeistert weitersprach. Sie drehte sich kurz um. Das Haus war bereits hinter einigen Bäumen und Büschen verschwunden, Musik und Stimmengewirr nur eine leise Erinnerung.

Viv blieb abrupt stehen. Max verstummte. Sie nahm das Medaillon in die Hand und öffnete es vorsichtig.

„Erde?“, fragte Max, erstaunt dessen Inhalt betrachtend.

„Heimaterde“, bestätigte Viv. Sie klappte es sanft wieder zu. „Als mein Vorfahr in England ankam, hat er einen ganzen Schwung davon aus der alten Welt mitgebracht. Er konnte ohne sie buchstäblich nicht leben. Aber im Laufe der Jahrhunderte haben wir uns angepasst. Habe ich mich angepasst. Und heute reicht ein bisschen davon. Das ist gut, denn viel ist sowieso nicht übrig geblieben.“

„Heimat“, sagte Max, „ist das, was wir uns selber schaffen.“

Ja, dachte Viv, am Ende war es das wohl. Sie war neugierig auf seine Bilder und darauf, was er noch alles malen würde. Schade nur, dass die jungen Leute nie lange hielten. Keine Stamina mehr heutzutage.

„Was sind Sie bereit, für Ihren Erfolg zu tun, junger Mann?“

„Alles!“, sagte Max. Seine Stimme zitterte kaum merklich.

Er legte den Kopf etwas zur Seite. Im Licht der kleinen Gartenlaterne glänzte seine weiße Haut. Sehr gut, dachte Viv. Er hatte wirklich seine Hausaufgaben gemacht.

„Willkommen im Club“, sagte Viv.

Sie beugte sich über ihn und biss sanft, aber gründlich, in seinen Hals.

 

 

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