Ein poetischer Moment

Ein poetischer Moment

Henry ließ sich auf der Bank beim Pegasus nieder. Langsam, denn seine Knie machten ihm Schwierigkeiten. Keine Kunst ist’s, alt zu werden/Es ist Kunst, es zu ertragen, so schrieb Goethe einst. Henry hatte sich mit den körperlichen Beschwerden abgefunden. Es war Herbst, nicht nur in der Stadt, sondern auch in seinem Leben. Der Winter stand vor der Tür, und das war nun mal der Lauf der Welt. Was Henry dagegen viel mehr umtrieb, war, dass er nicht mehr dichten konnte.

Goethe war auch in den späten Jahren die Lyrik nur so aus den Fingern geflossen. Doch Henrys Quelle war versiegt. Erst langsam, dann immer schneller. Zum Ende hin hatte sie noch getröpfelt, dann war ganz Schluss gewesen. Er war ein Dichter ohne Worte. Ausgetrocknet.

Ein schnaufender Mops wackelte uninteressiert an ihm vorbei. „Guten Abend“, grüßte Henry die alte Dame, die ihn ausführte. Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Er rückte seinen dunkelroten Schal zurecht. Früher hatten Damen ihrer Art zu dutzenden in seinen Lesungen gesessen, waren hingerissen gewesen, hatten sich seine Bücher signieren lassen. Jetzt konnte man seine Werke höchstens noch antiquarisch erwerben.

Die Dame nickte hoheitsvoll und marschierte weiter.

Ein dunkelbraunes Blatt segelte langsam vor seine Füße. Henry hatte angefangen, Spaziergänge zu machen. Immer in der Hoffnung, etwas Inspirierendes zu entdeckten. Doch die Stadt war zu laut geworden, zu groß, zu schrill. Es gab keine Stille mehr, nur noch Hupen und Schimpfen. Es gab keine Poesie mehr, nur noch Werbeplakate und Schaufenster.

Wo war das Schöne, das Erhabene geblieben?

Seine Füße hatten ihm wehgetan vom Pflaster treten.

Dann, vor einigen Wochen, hatte er in einer ruhigen Seitenstraße, gar nicht weit von seiner Wohnung, diesen kleinen Platz entdeckt. Umgeben von altmodischen Gaslaternen, Kopfsteinpflaster und Häuschen, die sich hinter großen alten Kastanienbäumen duckten. Manchmal überraschte das Leben einen eben doch noch. Vier Bänke (nur eine davon besetzt: mit ihm) und drei Blumenbeete (herbstliche Astern in zart lila) umgaben ein Podest in der Mitte, auf dem ein geflügeltes Pferdchen thronte: Pegasus.

Ein Kind der Medusa und des Poseidon, so jedenfalls erzählten es die alten Griechen. Wo er seine Hufe aufstampfte, entsprangen inspirierende Quellen. Eine davon lag im Helikon Gebirge, dem Sitz der Musen. Kein Wunder, dass Pegasus ein Sinnbild der Dichtkunst wurde.

Und hier stand er nun, ein steinernes, weißes Standbild, mit weit geöffneten Schwingen, auf einem kleinen, einsamen Platz in der großen Stadt.

Wundersamer Weise waren sowohl Statue als auch Sockel von den allgegenwärtigen Graffiti-Schmierereien verschont geblieben. Der ganze, kleine Platz wirkte wie aus der Zeit gefallen. Als wäre er in eine Blase gehüllt, die ihn vor dem Vandalismus der kruden Gegenwart schützte.

Henry kam jetzt jeden Abend hier her. Wenn die Dämmerung langsam in die Dunkelheit überging, wenn die Lichter hinter den Fenstern der kleinen Häuser ringsum zu leuchten begannen und die Gaslaternen mit leisem Zischen ansprangen.

Das Pferd stand auf seinen Hinterbeinen, die Vorderbeine schwebten bereits in der Luft. Seine Flügel waren weit ausgebreitet. Bereit zum Höhenflug.

Henry war nicht auf das Schreiben angewiesen. Vom dichten konnte ohnehin niemand leben, ja meistens noch nicht einmal vom Romane schreiben. Hermann Hesse war Buchhändler gewesen, Charles Bukowski Briefträger und Franz Kafka hatte bei einer Versicherung gearbeitet. Seiner Freundin Milena hatte Kafka einst geschrieben: Mein Dienst ist lächerlich und kläglich leicht. Ich weiß nicht, wofür ich das Geld bekomme.

Auch Henry war Zeit seines Lebens einem lächerlich einfachen Brotjob nachgegangen. Sein wirkliches Leben fand nach der Arbeit und an den Wochenenden statt. Lesen, schreiben, Ausstellungen besuchen. Dichten.

Es war nicht das Geld. Es war der Höhenflug, die Poesie, der Rausch der Worte, den er so schmerzlich vermisste. Jetzt, wo er endlich vom Zwang des täglichen Büro-Einerleis befreit war, jetzt, wo seine Zeit ihm gehört, ihm und der Muse, jetzt, wo er endlich, endlich Stunden am Stück hätte ungestört lyrische Ergüsse produzieren können … jetzt konnte er nicht mehr.

Nun saß er jeden Abend hier und starrte das Pferdchen an. Jeden Abend hofft er auf etwas. Auf ein Zeichen, auf einen Hinweis.

Ein kühler Wind fegt um die Häuserecken und raschelte durch die Kastanienblätter über ihm. Henry zog seinen Schal fester. Die anderen spätabendlichen Spaziergänger hatten sich schon längst in die Wärme ihrer Wohnungen zurückgezogen. Saßen miteinander am Abendbrottisch oder schon gemütlich auf dem Sofa vor dem Fernseher.

Mit den Frauen hatte es nie geklappt. Henry war schon immer mehr in Bücher und Wörter verliebt gewesen. Keine war lange bei ihm geblieben, und das hatte ihn auch nie besonders gestört. Er hatte die Poesie gehabt: Euterpe, die Muse der Lyrik. Aber auch die hatte ihn schließlich verlassen.

Henry könnte die Musen anrufen. So wie Homer zu Beginn der Odyssee. Aber Henry hatte eben kein Glück mit den Frauen.

Er stand vorsichtig auf. Seine Knie knirschten protestierend. Es war Zeit, sich auf den Heimweg zu machen, ehe er sich eine Erkältung oder Schlimmeres holte. Stattdessen ging er langsam auf das Pferdchen zu, streckte seinen Arm aus.

„Pegasus“, sagte er leise und berührte mit der rechten Hand seine kalte, weiße Flanke.

„Die Welt braucht Poesie. Ich brauche Poesie. Bitte, könntest du …“

Er stockte, wusste nicht weiter. Seine Stimme erschien ihm alt und zittrig, die laut ausgesprochenen Worte unendlich albern. Da stand der nun, ein alter Mann, sprach mit einem Standbild und erhoffte sich ein Zeichen. So ging das los. Nicht mehr lange, und er würde im Altersheim landen.

Nun gut, heute Abend war es das letzte Mal. Er würde sich nicht länger zum Narren machen, sondern das Unabänderliche akzeptieren. Henry warf einen letzten Blick auf das Pferd. Im Licht der Gaslaternen schimmerte sein weißer Körper. Ein Zittern lief über ihn. Von fernen Gestaden wehte ein sommerlicher Lufthauch heran und brachte einen Duft nach Olivenhain und Lorbeeren.

„Pegasus?“

Die Augen des Pferdchens schienen schelmisch zu funkeln. Ein leises Geräusch ertönte, als würde etwas Weiches auf den Boden aufschlagen. Aber hier befand sich doch niemand außer Henry? Oder hatte sich jemand hinter der Statue versteckt? Henry machte ein paar vorsichtige Schritte um das Podest herum. Und dann sah er es. Gleich hinter dem Pferdchen auf dem Boden: drei große, dampfende Pferdeäpfel.

Henry sah Pegasus an. Ruhiger, weißer Stein, nicht der Hauch einer Bewegung. Und doch war ihm, als läge ein leises Kichern in der Luft.

Unmöglich. Und doch, hier gab es keine anderen Pferde. Hier gab es niemanden, außer ihnen beiden. Der kleine Mops von vorhin hätte das hier unmöglich produzieren können.

Hatte Henry sich nicht ein Zeichen gewünscht, hatte er nicht verzweifelt darum gebeten?

Das war doch lächerlich. Albern. Aber auch ein klein wenig komisch. Was hatte er denn erwartet? Dass das Pferd einfach abhob und wegflog? Dass es von seinem Podest stieg und ihm eine Quelle aus dem Boden stampfte? Dass Homer erschien und ihn segnete?

„Ein Kuss von Euterpe wäre auch nicht schlecht gewesen“, sagte Henry laut.

Wie von Ferne klang ein fröhliches Wiehern an sein Ohr. Die Statue rührte sich nicht. Aber ein leichtes Grinsen lag auf dem Pferdchengesicht. In Henry blubberte es los. Er lachte, bis es von den Häuserwänden widerhallte, bis er sich krümmte, und den Bauch halten musste. So herzhaft hatte er schon lange nicht mehr gelacht.

Dann ging er nach Hause und schrieb ein Gedicht.

 

 

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Drei Autor*innen, ein Thema, drei Kurzgeschichten. Jeden Montag eine, reihum auf unseren Blogs kostenlos zu lesen, damit eure Woche einen wahrhaft phantastischen Start hat: Das ist #phantastischermontag. Und wenn der Monat fünf Montage hat, dann gibt es drei Bonusgeschichten! In diesem Jahr lassen wir uns von mythischen Tier- und Fabelwesen inspirieren und im Mai ist der Pegasus dran.

Bei C.A. Raaven heißt es: Wie der Vater, so der Sohn.

 

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