Der Herzenswunsch

Der Herzenswunsch

Da“, rief Jessica aufgeregt, „Da ist es! Halt an!“
Nina spähte durch die leicht regennassen Scheiben ihres heißgeliebten alten Minis auf das große Haus, aus dessen Fenster es wie Grablichter in der Dunkelheit flackerte.
„Dieser heruntergekommene Schuppen?“ fragte sie ungläubig.
„Passt doch“, kommentierte Suse.
Nina fand einen Parkplatz unter einer knorrigen Eiche und parkte ein, sorgsam darauf bedacht, ihr Autochen nicht zu zerkratzen. Die Halloweenparty des Schriftstellerverbandes war das Jahresereignis überhaupt. Alles, was in der Literaturszene Rang und Namen hatte, versammelte sich hier und feierte in dieser efeuumrankten Villa am kleinen Wannsee eine rauschende, literarische Horror-Ballnacht. Auch Nina und ihre Freundinnen Jessica und Suse, die jeweils Liebesromane und Krimis schrieben, waren eingeladen. Letztere kullerten von der Rückbank, nach Parfum und Prosecco duftend, kichernd, voller Vorfreude.
Nina stieg langsam aus, schloss sorgfältig ab und strich heimlich liebevoll über den dunkelroten Lack. Am liebsten wäre sie gleich wieder eingestiegen und nach Hause gefahren. Sie mochte Parties nicht, sie hasste Lesungen und überhaupt alle öffentlichen Veranstaltungen, auf denen sie sich zeigen sollte, weil es gut war für den Verkauf ihrer Bücher. Behauptete jedenfalls ihr Agent.
„Hör auf, deinen Mini zu streicheln und komm endlich!“, sagte Jessica. „Vielleicht findest du da drin einen, der auf deine Berührungen auch reagiert!“
Sie kicherte. Nina fühlte sich ertappt.
„Ich liebe mein Autochen. Wirklich. Das war …“, begann sie, und sofort fielen Jessica und Suse ein, beendeten den Satz mit ihr zusammen wie ein kichernder, griechischer Chor: „…das Erste, was ich mir gekauft habe, nachdem ich meinen ersten Buchvertrag unterschrieben hatte!“
Immer noch kichernd drehten die beiden sich um und stöckelten über das Kopfsteinpflaster zum Eingang hinüber. Nina zögerte, doch dann flog ein Lächeln über ihr Gesicht. Die beiden hatten ja recht. Sie würden sich jetzt einfach einen schönen Abend machen und an nichts weiter denken.
Nina lief hinter ihnen her. Vorbei an den anderen parkenden Autos. Sie sah den Mann im Schatten erst, als er sich bewegte. Groß war er, und dunkel. Sehr elegant gekleidet. Wahrscheinlich gerade der schwarzen Limousine entstiegen, die neben ihm stand und leise vor sich hin dampfte. Er lüftete höflich seinen Zylinder, als Nina vorbeieilte. Ein echter Gentleman. Das seine Augen rot zu schimmern schienen, lag bestimmt nur daran, dass sich das Licht vom Haus gegenüber darin spiegelte. Sie hatte keine Zeit, sich weiter darüber Gedanken zu machen, denn just in diesem Augenblick klingelte ihr Handy.
„Jonas, hallo!“ Ihr Sohn rief so selten an, das war wirklich eine Überraschung. „Wie geht es dir?“
Nina hörte seiner aufgeregten Stimme zu, die von einer exotischen Tier- und Pflanzenwelt schwärmte. Jonas machte gerade ein Studienpraktikum. Er begleitete als angehender Botaniker eine Forschungsgruppe im Dschungel von Surinam und hatte, so schien es, seine Berufung gefunden.
„Na los, komm schon!“, rief Jessica vom Eingang her.
Nina steckte das Handy wieder in ihre Handtasche und schloss zu den Mädels auf. In Gedanken an Jonas lächelte sie. Ihr kleiner Junge. Nicht mehr so klein. Zumindest der war ihr gelungen. Auch wenn sie ihn allein erzogen hatte, weil der Vater sich verdünnisiert hatte.
„Ist das nicht klasse!“, freute sich Jessica, als sie durch die Eingangstür hinein, über einen düsteren, von Fackeln erhellten Korridor in einen großen Saal gelangten, wo die Party bereits in vollem Gange war. Unter einem mit Spinnweben verhangenen Kronleuchter, im Schein unzähliger schwarzer Kerzen, tummelte sich die literarische Elite.
Man hatte sich Mühe gegeben.
Nina sah Frankensteins Monster mit Morticia Adams tanzen und in einer Ecke unterhielt sich Edgar Allan Poe mit einer Frau im Rabenkostüm. Schwarze Katzen strichen herum, mehrere Draculas flatterten mit ihren Umhängen auf der Suche nach blassen Bräuten. Alice hatte ihr Wunderland verlassen und machte das Buffet unsicher, während der verrückte Hutmacher statt Tee augenscheinlich Whisky trank.
„Guck mal, der kleine mit der Brille, was ist das denn für eine Verkleidung?“, fragte Jessica.
„Ich glaube, das soll Dennis Scheck sein, der Fernsehkritiker“, meine Nina.
„Sie werden ihn vierteilen und in der Bowle ertränken“, prophezeite Suse düster.
„Schön wärs“, sagte Jessica.
Dennis Scheck hatte mindestens drei ihrer Bücher öffentlich in die Tonne gestampft.
„Da, das Buffet!“
Suse kam wie immer schnell zum Wesentlichen.
Sie inspizierten einen nachtschwarzen Pudding mit madenweißer Soße dazu, grünschimmelige Pasteten, abgehackte Würstchenfinger, und ein grinsender Halloweenkürbis voller Suppe, in der kleine schwarze Dinge schwammen. Nina entschied sich für ein Sandwich, auf dem Tomaten über eitergelben Käse bluteten. Es schmeckte sogar sehr gut, doch der zweite Bissen blieb ihr beinahe im Halse stecken, als sie sich umdrehte und auf die Tanzfläche blickte.
„Da, guck mal. Siehst du sie?“, fragte Jessica überflüssigerweise.
Inmitten einer Traube von Bewunderern, einigen Heathcliffs, Sherlock Holmes’, und Lord Voldemort persönlich stand Lilly L’Amour, die Liebesromanqueen, verkleidet als die rote Königin, aus Alice im Wunderland, und hielt Hof.
„Ab mit ihrem Kopf“, murmelte Suse.
Jessica kicherte hysterisch.
„Ich hasse sie“, brummte Suse. „Ihre Bücher sind Bockmist. Schlecht geschrieben, schlecht lektoriert, absoluter Schund. Schmalzige Tränendrüsendrücker.“
„Aber die Leser lieben sie“, seufzte Jessica.
„Quatsch. Die Leser werden von den guten Rezensionen an der Nase herumgeführt. Und die sind allesamt gekauft!“, sagte Suse.
Jessica machte große Augen: „Was?“
„Ja klar, die kauft sich ihre Rezensionen für Amazon. Das weiß doch jeder. Warum sonst schreibt sie dauernd Bestseller? Die hat ja noch nicht mal kapiert, worin der Unterschied zwischen auktorialem und personalem Erzählstil besteht“, grollte Suse. „Ihre Figuren sind flach, der Spannungsbogen praktisch nicht existent und ihr sprachliches Niveau ist das einer Küchenschabe.“
„Ich hab gehört, sie schläft mit den einflussreichsten Kritikern“, sagte Jessica.
„Na die Kerle sind zu bedauern. Mit der Eiskönigin im Bett?“, meinte Suse.
Jessica kicherte wieder.
„Da vorne gibt’s Champagner!“
„Auf, gehen wir unseren Kummer ertränken!“
Es war einfach nicht fair. Hier war sie, Nina, sie arbeitete ihre Geschichten genau aus, ihre Charaktere sprühten nur so vor Leben und der Spannungsbogen stand wie eine eins. Auch sie hatte Rezensionen, aber noch nicht mal ein Drittel von dem, was Lilly L’Amour vorzeigen konnte. Aber zumindest hatte Nina keine einzige davon gekauft. Und sie waren alle positiv.
Aber das reichte eben nicht aus. Wozu gab sie sich eigentlich die ganze Mühe, wenn sie einfach irgendeinen Mist fabrizieren und damit einen Haufen Kohle machen konnte? Von den Fans und Bewunderer ganz zu schweigen. Lilly ging heute Abend garantiert nicht alleine nach Hause.
Warm auch nicht. Sie war seit einem Jahr Single. Witwe, besser gesagt. Ihr Mann hatte einen Autounfall gehabt. Einen ziemlich gruseligen, wenn Nina sich recht erinnerte. Wurde ihm nicht der Kopf abgetrennt? Als bitte, auch in Lillys Leben lief nicht alles wie geschmiert. Obwohl, seit diesem Unfall hatten ihre Bücher die Bestsellerlisten unterwandert wie Maden eine verwesende Leiche im Sarg. Wenn Nina sie jetzt so betrachtete: wie eine trauernde Witwe sah sie nicht aus. Trotzdem. Es war einfach nicht fair.
„Ich würde sonst was geben, wenn ich auch mal einen Bestseller landen könnte“, seufzte Nina mehr zu sich selbst.
„Auch etwas, das Sie wirklich lieben?“ fragte jemand.
„Ja“, sagte sie ohne nachzudenken.
Erst dann fiel ihr auf, dass sie diese Stimme gar nicht kannte. Ihre Freundinnen hatten sich weiter durch die Menge gedrängt und Nina alleine gelassen. Nicht ganz allein. Neben ihr stand der Gentleman vom Parkplatz. So aus der Nähe betrachtet war er wirklich umwerfend. Fein geschnittenes, markantes Gesicht, schmale, leicht lächelnde Lippen und dunkle Augen, in denen Nina glaubte, ihr eigenes Spiegelbild zu sehen. Sah sie wirklich so verzweifelt aus?
„Sie wissen doch, dass man nichts auf dieser Welt umsonst bekommt?“, sagte der Gentleman. „Jedes Ding hat seinen Preis. Und jeder Mensch.“
„Ich … äh … ja“, stammelte Nina.
Sie konnte sich dem Blick dieser Augen nicht entziehen. Und warum lächelte er so wissend? Als hätte er genau gehört, was sie eben noch gedacht hatte. Nina spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Auch das noch. Der Gentleman zog erneut seinen Zylinder, machte eine kleine Verbeugung, drehte sich um und verschwand in der Menge.
„Wo bleibst du denn?“
Jessica war zurückgekommen mit Champagner. Die Band spielte alte Schlager, und es wurde doch noch ein recht lustiger Abend. So lustig, dass sie erst gegen zwei Uhr nachts beschlossen, das es nun genug war. Jessica und Suse mussten einander bereits stützen. Nina ging den Wagen holen. Auch diesmal sah sie den dunklen Gentleman erst, als sie beinahe mit ihm zusammenprallte.
„Ich bitte um Verzeihung“, sagte er und lüftete erneut seinen Hut.
Ein Duft nach Lagerfeuer und feuchtem Herbstlaub umgab ihn.
„Sie haben mich erschreckt!“, sagte Nina.
„Stehen Sie dazu?“
„Wie bitte?“
„Zu dem, was Sie vorhin gesagt haben. Sie würden etwas hergeben, was Sie wirklich lieben, wenn Sie endlich einen Bestseller hätten?“
Die schwarz behandschuhten Finger seiner Linken klopften leicht auf das Dach ihres Minis. Es klang wie ein Morsecode. SOS: Save our Souls. Wie hypnotisiert von dem regelmäßigen Rhythmus öffnete Nina ihre Lippen und sagte: „Ja“.
„Gut. Sehr gut.“
Die Hand wurde vom Dach genommen, der Gentleman verbeugte sich und verschwand in der Dunkelheit. Nina strengte ihre Augen an, doch er war einfach weg. Was war das denn für ein Auftritt gewesen? Ein fanatischer Minisammler? Warum hatte er ihr für das Auto nicht einfach ein Angebot gemacht? Und wie kam er auf die Idee, er könnte aus ihrem Buch einen Bestseller machen? War er etwa ein einflussreicher Kritiker und sie hatte ihn nur nicht erkannt?
Irgendwo hinter ihr konnte Nina hören, wie sich Jessica in den Rinnstein erbrach. Wenigstens nicht auf den Polstern ihres Minis.
Drei Tage später kam der Anruf. Es war Jonas Telefonnummer, aber nicht seine Stimme. Sondern die eines Mannes, der weinte. Nina begriff nicht alles, nicht gleich und nicht sofort. Als sie es begriffen hatte und zusammenbrach, waren Suse und Jessica für sie da. Die Tageszeitungen, die die blutigen Details über den Tod ihres Sohnes genüsslich ausschlachteten, die bekam Nina nie zu Gesicht. Die Journalisten, die anriefen und wissen wollten, wie sie sich fühlte, und ob sie über die makabere Tragödie irgendwann ein Buch schreiben wollte, wurden von Suse barsch abgefertigt. In dem Bemühen, sie aufzuheitern, brachte Jessica in der vierten Woche sogar das Spiegel-Magazin mit. Freudestrahlend zeigte sie Nina die Seite mit der Bestsellerliste. Ihr Roman war tatsächlich auf Platz drei geklettert.
„Es reicht, wenn dein Name oft genug in der Zeitung steht“, sagte Jessica.
Nina wurde übel. Sie öffnete das Fenster, atmete tief ein. Versuchte, das Zittern in ihren Knien zu beherrschen. Die Luft roch nach Lagerfeuer und feuchtem Herbstlaub. Unten auf der Straße stand ihr alter Mini. Sein Lack glänzte blutrot.

 

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