Der Mythinator

Der Mythinator

„So kann das einfach nicht weiter gehen!“, sagte die Bibliothekarin streng.

Der Mythinator nickte.

„Kann ich mich auf Sie verlassen?“

„Selbstverständlich. Ich habe über zwanzig Jahre Erfahrung im Terminieren mythischer Wesen. Schnell, gründlich, nachhaltig und umweltfreundlich. Wenn Sie eine Liste meiner Referenzen wünschen? Mein letzter Klient, der Betreiber des Einkaufszentrums Königsallee, wäre jederzeit bereit …“

„Schon gut. Nicht nötig.“

Schade eigentlich. Es war eine spannende Geschichte gewesen. In frisch gegrabenen Tunneln unter der Shopping-Mall hatte sich ein Drachen eingenistet. Der Mythinator hatte diesen dank seiner Liebe zu funkelnden, schillernden Objekten erfolgreich in eine Falle gelockt. Aber vielleicht war es gerade nicht klug, von Drachen zu sprechen.

Die Bibliothekarin nahm ihre Brille ab, kniff die Augen zusammen und massierte kurz ihre Nasenwurzel. „Die Angestellten trauen sich seit Tagen nicht mehr in den Keller.“ In ihrer Stimme klang Erschöpfung durch. „Ich musste in meinem Büro ein Töpfchen aufstellen!“

Der Mythinator verkniff sich ein Grinsen.

„Ist das ihr … Handwerkszeug?“

Die Bibliothekarin wies auf seinen Armee-Rucksack, der neben ihm auf dem Boden stand. Die Griffe diverser Waffen ragten oben heraus. Axt, Gewehr mit Silberkugeln, ein Bogen, Pfeile … er hatte immer so gut wie alles dabei. Hauptsächlich, weil es die Klienten beruhigte. Unter denselben Gesichtspunkten hatte er auch seine Kleidung ausgewählt. Tarnfarbene Hose mit Messergürtel, schwarzes Tank-Top, dass seine breite Schultern und seine gut austrainierten Muskeln zur Geltung brachte. Rasiermesserkurz geschnittenes, schwarzes Haar. Das er fast zwei Meter groß war, trug zum furchteinflößenden Gesamtbild nicht unwesentlich bei.

„Kein Blut auf den Teppichen!“, forderte die Bibliothekarin.

„Ich hinterlasse keine Spuren“, sagte der Mythinator geduldig.

Die Bibiothekarin setzte ihre Brille wieder auf. „Ja, das habe ich gehört. Man hat sie mir wärmstens empfohlen.“

Er hatte noch nie Werbung machen müssen. Seine Fähigkeiten sprachen sich in den richtigen Kreisen sehr schnell herum. Und in letzter Zeit hatte er sich vor Aufträgen kaum retten können.

„Glauben Sie mir, ich hätte auch lieber eine gewaltfreie Lösung angestrebt“, sagte die Bibliothekarin. „Aber wir haben schon alles Mögliche versucht. Wir hatten sogar einen Professor hier, der auf Mythen und Märchen spezialisiert ist. Und selbst der konnte sie nicht vertreiben.“

Den Mythinator wunderte das nicht. Geisteswissenschaftler versteckten sich immer hinter ihren Büchern und wenn sie mal mit dem richtigen Leben konfrontiert wurden, flüchteten sie wie die Hasen.

„Wo ist sie?“, stellte er die wichtigste Frage.

„In unserem Archiv im Keller. Aber stellen Sie sich nur mal vor, sie kommt nach oben und blockiert den Ausgang. Oder den Eingang?“ Die Bibliothekarin erschauerte.

Er schulterte seinen Rucksack. „Dann mache ich mich mal an die Arbeit.“

„Und immer schön leise sein!“, mahnte die Bibliothekarin.

Der Mythinator stieg die Treppe zum Keller hinunter. Das Archiv bestand, wie nicht anders zu erwarten, aus Regalreihen über Regalreihe voller Büchern und Aktenordnern. Eine funzelige Neonbeleuchtung flackerte an der Decke und der Teppich hatte eine undefinierbare Farbe, auf der etwas Blut gar nicht weiter aufgefallen wäre. Der Mythinator schnupperte. Es roch leicht muffig nach ungelesenen Büchern, aber da lag auch noch etwas anderes in der Luft. Ein Hauch von Olivenhain und Mittelmeer.

Irgendwo vor ihm ertönte ein leises, rhythmisches Klackern. Langsam bewegte er sich vorwärts, an den Regalreihen vorbei, die sich links und rechts neben ihm in der Dämmerung verloren. Der Keller schien größer zu sein als die Räume der Bibliothek darüber. Das Klackern wurde lauter. Der Mythinator erreichte das Ende des Mittelganges. Hier endete auch der Teppich und das erklärte die Geräusche. Denn so hörte es sich an, wenn die Löwenkrallen einer Sphinx auf hartem Betonboden treffen.

Der Mythinator blieb stehen und bewunderte das mythische Wesen. Der Körper einer Löwin, der Kopf einer Frau und die Flügel eines Vogels. Eine richtige Sphinx, so wie die alten Griechen sie beschrieben hatten. Diese hier ging ihm fast bis zur Hüfte. Mit geschmeidigen Bewegungen paradierte sie vor den Türen auf und ab, die sie schützte. Ihr Fell glänzte honigfarben, ihre dunklen Augen musterten ihn interessiert.

„Kalimera“, sagte der Mythinator.

Das hieß ‚guten Tag‘ auf Griechisch, und war so ziemlich das einzige, dass er von dieser Sprache beherrschte. Es war nie verkehrt, freundlich zu sein.

„Tach“, sagte die Sphinx unbeeindruckt. „Wenn du hier eintreten willst, musst du mein Rätsel lösen. Gelingt es dir nicht, fresse ich dich.“

Ödipus, so die Griechische Sage, wurde von einer Sphinx daran gehindert, die Stadt Theben zu betreten. Er löste ihr Rätsel und sie soll sich aus Scham über ihr Versagen umgebracht haben. Aber so war das mit den alten Geschichten. Sie enthielten nur bedingt die Wahrheit.

„Schon gut, ich habs nicht eilig.“

Warum die Sphinx sich ausgerechnet die Toiletten-Türen zum Bewachen ausgesucht hatte, war ihm ein Rätsel. Aber es erklärte, warum die Bibliothekarin ein Töpfchen in ihrem Büro hatte.

„Was hast du da drin?“

Sie deutete mit ihrer Pfote auf seinen Rucksack.

„Waffen.“

„Ich besitze ebenfalls Waffen.“

Sie zeigte ihm ihre spitzen Krallen. Er nickte, nahm seinen Rucksack langsam ab und stellte ihn zur Seite. Dann setzte er sich auf den Boden, den Rücken an das letzte Bücherregal gelehnt und nahm eine Thermoskanne aus seinem Rucksack.

„Wie bist du hierhergekommen, wenn ich fragen darf?“

Er goss sich einen Kaffee ein. Die Sphinx sah ihm neugierig zu.

„Ich weiß es nicht.“

Der Drache hatte auch keinen blassen Schimmer gehabt. Ein Einkaufszentrum war natürlich gestopft voll mit glitzerndem Tand und schon alleine deshalb von Interesse für diese Schätze hortenden Wesen. Und eine Bibliothek, nun ja. Welcher Ort war besser geeignet, um sowohl Rätsel als auch Lösungen zu versammeln und deren Fans magisch anzuziehen?

Normalerweise hielten sich mythische Wesen von Menschen fern. Wenn man im Lauf der Jahrhunderte immer nur gejagt und vielfach auch getötet wurde, entwickelte man einen gesunden Selbsterhaltungstrieb. Aber die Menschheit hatten sich überall auf dem Planeten breitgemacht und die Zufluchtsorte für phantastische Kreaturen wurden immer weniger.

Der Mythinator schnupperte genießerisch an seinem Kaffee, dann nahm er einen Schluck. Ah, wunderbar.

„Ich mag Pfirsichsaft“, sagte die Sphinx nachdenklich. „Und Kekse.“

„Ich dachte, du frisst ratlose Menschen?“

„Nur, wenn ich muss. Und selbst dann nicht besonders gerne“, gab sie zu.

Der Drache hatte sich ganz ähnlich geäußert.

„Und du, benutzt du deine Waffen?“, wollte die Sphinx wissen.

„Nie“, gab der Mythinator zu. „Die sollen lediglich meine Mitmenschen beeindrucken.“

Wenn er nicht radikale Lösungen anbieten und so wirken würde, als könne er sie auch umsetzen, dann würde er nicht halb so viele Aufträge bekommen. Und dann hätte er noch nicht mal einem Drittel der Wesen, die er bisher aufgesucht hatte, helfen können. Die meisten Menschen wollten einen Drachen lieber tot sehen, als lebendig. Sphinxe erst recht.

„Ich fürchte, du hältst hier ein wenig den Betrieb auf.“

„So sehr, dass sie gleich einen Mann mit Waffen schicken müssen?“

„Sie haben Angst vor dir“, sagte der Mythinator. „Und du weißt ja, wie Menschen mit allem umgehen, was sie nicht kennen und was ihnen Angst macht.“

Die Sphinx seufzte.

„Magst du Drachen?“, wollte der Mythinator wissen.

Sie nickte.

„Ich habe einen Bauernhof auf dem Land, schön abgelegen. Der ist zwar schon ziemlich voll, aber für dich finden wir schon noch ein Plätzchen. Es gibt dort ein paar interessante Türen zum Bewachen.“

Und Rätsel mochte er sowieso.

„Hast du auch Bücher?“, erkundigte sich die Sphinx.

„Nicht so viele wie hier, aber ja, ein paar Regale voll sind es schon.“

Sie neigte nachdenklich den Kopf.

„Ich kann unterwegs beim Supermarkt haltmachen und Pfirsichsaft kaufen.“

Die Sphinx lächelte.

 

 

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Maike Stein präsentiert Des Rätsels Lösung.

Bei C. A. Raaven geht es um Das Rätsel des Lebens.

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