First Date
Ellie erklomm den kleinen Hügel. Eine Wolke huschte über den Vollmond und tauchte den steinigen, ungepflegten Weg in völlige Dunkelheit, aber das machte ihr nichts aus. Nicht nur, weil sie ihre dicken schwarzen Bikerboots trug, sondern weil Trolle auch bei Dunkelheit gut sehen können. Und so entging ihr auch der feine weiße Nebelstreif nicht, der neben der alten Friedhofspforte erwartungsvoll waberte.
Von weither erklangen die Schläge einer alten Kirchturmuhr. Elfmal. Ellie hätte sich ein Treffen etwas näher an der City gewünscht, aber Henry hatte auf diesem alten Friedhof in einem Randbezirk bestanden. Er wollte ihr zum ersten Date etwas ganz Besonderes bieten und war so aufgeregt gewesen, dass Ellie sich hatte umstimmen lassen. Sie bereute es bereits.
„Fräulein Ellie, wie schön!“
Aus dem Nebelstreif wuchs ein Mann hervor, gekleidet in ein altmodisches Wams, komplett mit Schnallenschuhen und mit Rüschenhemd. Er langte nach Ellies grüner Hand, bereit, einen Kuss darauf zu pflanzen. Ellie steckte fix beide Hände in die Taschen ihrer Lederjacke.
„Ich dachte, die Förmlichkeiten hätten wir hinter uns, Henry.“
Er lächelte entschuldigend. Hübsche Grübchen. „Meine Erziehung. Die werde ich nicht so schnell los. Bitte, tritt ein.“
Das Friedhofstor quietschte erbärmlich. Ellie trottete hinter dem geschäftig voran eilenden Gespenst hinterher. Wenn der Algorithmus der Dating-App Love Fantastic sie nicht zusammengeführt hätte, wäre sie heute Abend garantiert woanders.
„Hier wären wir.“
Er wies auf ein paar flackernde Lichter vor sich und Ellie staunte nicht schlecht. Auf einer Grabplatte vor einem alten Mausoleum war eine festliche Tafel aufgebaut. Leinentischdecke, silberne Kerzenhalter und weißes Porzellan, das wie polierte Knochen im Mondlicht schimmerte. Dazu mehrere silberne Terrinen, unter deren Deckeln hervor es noch leise dampfte. Ellie stellte fest, dass sie großen Hunger hatte.
„Bitte nimm Platz.“
Ellie setzte sich auf einen umgefallenen Grabstein. Henry klatschte in die Hände. Musik setzte ein, so unmittelbar und nah, dass Ellie unwillkürlich zusammenzuckte. Sie drehte sich um. Unter einer nahen Trauerweide standen Musiker und spielten hingebungsvoll eine getragene Melodie. Sie waren in altmodische dunkel Anzüge gekleidet und Ellie musste zweimal hinsehen, um sicher zu sein: Alle waren tropfnass. Sogar ihre Instrumente glänzten feucht im Schein des Mondes.
„Die haben auf der Titanic gespielt“, erklärte Henry stolz.
Das erklärte die Titelauswahl: Näher, mein Gott, zu dir.
„Ich steh ja mehr auf Rock ’n‘ Roll“, entfuhr es Ellie.
Zwei der Musiker verzogen abschätzig das Gesicht, fiedelten jedoch weiter. Henry ließ die Schultern hängen.
„Aber das hier passt natürlich prima zum Ort“, beeilte sich Ellie zu sagen.
Henry lächelte dankbar. „Wein?“
Er goss eine blutrote Flüssigkeit in Ellies Glas. Ellie mochte eigentlich Bier lieber, aber Henry hatte sich solche Mühe gegeben.
„Auf dich, meine Liebe.“
Der Blick aus Henrys blauen Augen ließ Ellies Vorbehalte schwinden. Und der Wein schmeckte erstaunlich gut, nach Holz und Rauch. Henry machte sich an den diversen Schüsseln zu schaffen.
„Was gibts denn Schönes?“, erkundigte sich Ellie.
„Ich hoffe, du hat genug Hunger mitgebracht“, sagte Henry. „Ich bin ja eher kein großer Esser.“
„Kein Problem“, grinste Ellie.
Henry hob eifrig die Deckel ab. Und alles, was Ellie sah, war Fleisch. Dicke, fetttriefende Bratenstücke. Henry musste es ihr angesehen haben, denn sein freudiger Gesichtsausdruck fiel in sich zusammen. „Ich dachte …“
„Nee, schon richtig. Die meisten von uns lieben das. Ich bin da eher aus der Art gefallen. Tatsächlich kenne ich keinen anderen Troll, der Vegetarier ist.“
Henry stülpte schnellstens alle Deckel wieder drauf.
„Was ist das, Salat?“ Ellie deutete auf eine kleine Schüssel am Rande.
„Ja“, nickte Henry eifrig. „Und Brot habe ich auch.“
Ellie langte zu, Henry entspannte sich ein wenig. Der Salat war lecker, der Wein ebenfalls. Und Henry sowieso einfach zum Anbeißen. Dass er sich all die Mühe gemacht hatte, nur ihretwegen? Verblüffend. Schmeichelhaft. Und jetzt waren sogar die Musiker am Ende angelangt. Endlich.
Eine Stimme aus der Dunkelheit deklamierte: „Ihre Schönheit verdunkelte die lichte Welt, und neben ihr schien alles nur ein flüchtig Schattenbild zu sein.“
Ein Mann mit wallender Lockenmähne und Rüschenhemd trat aus den Schatten. Er warf sich in die Brust und begann, ein sehr langes, sehr blumiges Liebesgedicht vorzutragen.
„Das ist der Dichter Percy Shelley“, flüsterte Henry. „Du magst doch Poesie, nicht wahr?“
Ellie hätte sich lieber mit Henry unterhalten. Aber sie nickte nur.
„Ich habe alle meine Beziehungen spielen lassen“, flüsterte Henry stolz.
Der Dichter warf ihnen einen ungehaltenen Blick zu. Henry verstummte. Er musste wirklich viele Leute, Pardon, Geister, kennen. Die Musiker der Titanic, den Dichter Shelley … Ellie blickte sich verstohlen um. Wer wohl als Nächstes aus dem Gebüsch hüpfen würde? Sie seufzte leise. Der Algorithmus von Love Fantastic war wohl doch nicht so toll, wie die Werbung versprach.
„Sie geht in Schönheit, wie die Nacht …“
Da, da war tatsächlich ein zweiter Geist erschienen. Allerdings nicht aus dem Gebüsch, sondern er war hinter einem der alten Mausoleen hervorgetreten. Etwas kleiner und kompakter als Shelley, dunkle Haare, dunkle Augen und ungefähr dreimal so leidenschaftlich.
„Das … das ist Lord Byron“, sagte Henry. „Aber den habe ich gar nicht engagiert!“
Die Herren Poeten lieferten sich einen Dichterwettstreit: Wer konnte lauter und inbrünstiger deklamieren? Sie scherten sich gar nicht mehr um ihr Publikum, sondern funkelten einander wild an. Im Hintergrund bemühte sich das Orchester, ebenfalls lauter zu spielen. Alle wollten gehört werden. Ellie begann, sich zu amüsieren. Der Abend konnte doch noch ganz lustig werden. Dann sah sie Henrys Bestürzung.
„Es tut mir leid“, sagte er. Zweimal, laut, weil Ellie ihn sonst über dem sich reimenden, musikalischen Lärm nicht gehört hätte. „Byron mag es nicht, wenn man ihn übergeht. Und ich wollte doch nur, dass es ein schöner Abend wird. Für dich. Für uns beide.“
Ellie nickte. Dann sprang sie auf, holte tief Luft und brüllte: „Ruhe im Karton!“
Die Musik brach ab. Die Dichter verstummten und warfen einander verschüchterte Blicke zu.
„Vielen Dank, ihr könnt jetzt alle nach Hause gehen.“
„Aber …“, begann Lord Byron.
Ellie ballte ihre rechte Hand zur Faust.
„Kein System konnte erdacht werden, das mit mehr Eifer das menschliche Glück befehdet hat, als die Ehe!“, zischte Shelley.
Dann verwehte der ganze Spuk im Nachtwind. Köstliche Stille kehrte ein, nur unterbrochen vom gelegentlichen Ruf eines Käuzchens.
„Schon besser“, sagte Ellie und hielt Henry ihr leeres Weinglas hin.
Er goss nach, sah jedoch immer noch besorgt aus. „Ich habe alles vermasselt, stimmts?“
Ellie schüttelte den Kopf. „Das sind so Sachen, die gehen zu Anfang immer schief. Nichts, über das wir nicht reden könnten.“
Ein Hoffnungsschimmer zog über sein Gesicht.
„Aber da ist noch was anderes, über das wir reden müssen.“
Der Hoffnungsschimmer verflog.
„Was ist dein Unerledigtes?“
„Mein …?“
„Na du weißt schon. Die Sache, wegen der du zum Gespenst geworden bist. Das, was dich hier hält, was es dir unmöglich macht, weiterzureisen. Die unerledigte Sache. Denn wenn du die erledigt hast, dann bist du weg und ich stehe wieder alleine da.“
Ellie hatte sich getraut, sie hatte es ausgesprochen. Das, wovor sie sich am meisten fürchtete. Und merkwürdigerweise war der Hoffnungsschimmer gerade wieder in Henrys Gesicht erschienen.
„Mein Unerledigtes ist mein Leben“, sagte Henry. „Ich bin viel zu jung gestorben. Ich habe nie richtig gelebt, richtig geliebt. Ich habe nie jemanden wie dich gehabt. Mein Unerledigtes, liebe Ellie, bist du.“
„Ich?“
„Nur mit dir zusammen fühle ich mich lebendig, so lebendig wie nie zu meinen Lebzeiten. Du und ich, gemeinsam. Das möchte ich auskosten, bis zum letzten. Ein langes, erfülltes, glückliches Leben an deiner Seite.“
Eine ferne Kirchturmuhr begann, Mitternacht zu schlagen. Die Stunde, in der Henry körperlich wurde, brach an. Gutes Timing, dachte Ellie, zum ersten Mal an diesem Abend. Und küsste ihn.
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Vier Autor*innen, ein Thema, vier Kurzgeschichten. Jeden Montag eine, reihum auf unseren Blogs kostenlos zu lesen, damit eure Woche einen wahrhaft phantastischen Start hat: Das ist #phantastischermontag. In 2021 lassen wir uns von unseren Lieblingssongs zu Geschichten inspirieren.
Im April ist es das Lied The Old Churchyard von den Wailin‘ Jennys. Ellie und Henry, die sich in Love Fantastic kennengelernt haben, ließen mich nicht mehr los und dieser Song hat mich zu einer Fortsetzung inspiriert. Mal sehen, ob ihre Geschichte noch weiter geht (die beiden sind jedenfalls sehr hartnäckig).
Bei C.A. Raaven gibt es noch etwas zu tun Bevor ich schlafen kann.
Mit Maike Stein besuchen wir den Friedhof der Verschwundenen.
Und bei Alexa Pukall sind wir Am Kirchhof.
Viel Spaß beim Lesen!
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