Love Fantastic

Love Fantastic

Kurz nachdem der elfte Schlag der nahen Kirchturmglocke verklungen war, schwebte ein feiner weißer Nebel durch Ellies weit geöffnetes Küchenfenster herein.

Sehr gut, dachte Ellie, wenigstens ist er pünktlich. Das Bild auf seinem Online-Profil hatte allerdings anders ausgesehen. Nun, man wusste ja, wie die Leute heutzutage im Internet logen.

Im fahlen Mondlicht materialisierte sich langsam eine Gestalt.

Ellie seufzte. Sie hatte eine schöne Flasche Chablis kaltgestellt, aber das war wohl vergebene Liebesmüh gewesen. Vor ihr stand ein stattliches Mannsbild mit Rüschenhemd, Samtweste und Backenbart. Das einzige, was den properen Gesamteindruck störte, war das blutverkrustete Einschussloch auf seiner Brust. Ellie schätzte ihn auf spätes 19. Jahrhundert. Trotzdem kannte er sich mit Online-Dating aus, das war ein gutes Zeichen. Er blieb sozusagen up to date.

Ihr Gast machte eine schwungvolle Verbeugung, dann hielt er ihr ein Blumengebinde unter die Nase.

„Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, Sie endlich persönlich kennenzulernen, verehrtes Fräulein Ellie.“

An den leicht welken Blumen hing ein samtenes Band mit dem Schriftzug: Geliebt und Unvergessen. Ellie schnupperte. Sie mochte Schokolade lieber, aber Grünzeug war ja angeblich gut für die Gesundheit. Sie verschlang das Gesteck mit ein paar schnellen Bissen.

Ihr Besucher machte große Augen. Die allerdings von einem recht hübschen, dunklen Blau waren.

„Gut abgehangen“, sagte Ellie und rülpste laut. „Danke, Henry.“

„Nicht der Rede wert.“ Seine Stimme schwankte ein wenig.

„Möchtest du dich setzen?“

Dankbar glitt er auf den nächsten Küchenstuhl.

„Ich würde dir ja ein Glas Wein anbieten, aber …“

„Zu gütig. Hätten Sie vielleicht auch etwas Stärkeres?“ Sein Blick huschte verstohlen über ihre kräftigen Oberarme. Nun, wenn er was gegen Trolle hatte, dann war er hier auf alle Fälle falsch.

„Können Gespenster denn überhaupt essen und trinken?“

Henry sprang auf. „Ich bin ein Gespenst und Gentleman“, empörte er sich. „In erster Linie Gentleman.“ Er setzte sich wieder. „Aber Sie haben natürlich recht, körperliche Genüsse sind mir eigentlich verwehrt. Der Duft von Whisky jedoch, der ruft Erinnerungen wach.“

Ellie schenkte ihnen beiden einen ordentlichen Tropfen ein. Also sie konnte jetzt auf alle Fälle einen Schluck gebrauchen.

„Cheers!“

Henry schnupperte genießerisch. Ellie freute sich über die angenehme Wärme in ihrem Bauch. Das war das letzte Mal, versprach sie sich selbst. Nie mehr Online-Dating.

„Alle elf Jahrhunderte verliebt sich ein fabelhaftes Wesen über Love Fantastic!“, zitierte sie laut den bekannten Werbeslogan.

„Da hat sich der Algorithmus wohl geirrt“, meinte Henry.

„Vielleicht ein Gremlin im Computer? Die bringen gerne Maschinen durcheinander.“

„Oder eine unzufriedene Kundin hat die Agentur verflucht.“

„Ja, genau. Wegen zu viel ghosting.“

Sie brachen fast gleichzeitig in Gelächter aus. Wenigstens hat er Humor, dachte Ellie. Und ein schönes Lächeln.

„Auf Ihrem Foto sehen Sie … sehr viel weniger grün aus“, sagte Henry.

„Und du sehr viel … substanzieller.“

„Ich dachte, als Gespenst hätte ich heutzutage keine Chance“, gestand Henry.

„Und ich hatte die Schnauze voll von den Kerlen, für die Trollfrauen-Dating nur ein Fetisch ist.“

„Das gibt es auch?“

„Oh, es gibt alle möglichen Idioten da draußen.“

Ellie trank, Henry schnupperte. Vor dem Fenster sang eine Nachtigall. Der Strahl des Mondes fiel auf einen kleinen Bücherstapel auf dem Küchentisch.

„Sie lesen gerne?“

„Schluss mit dem Siezen. Und du brauchst gar nicht so dumm zu fragen. Nur weil ich Muskeln habe und als Rausschmeißerin in einem Nachtclub arbeite heißt das noch lange nicht, dass ich blöd bin.“

„Aber wertes Fräulein, ich bitte Sie …“

„Ellie! Und Fräulein sagt heutzutage auch keiner mehr!“

„Es tut mir leid, so habe ich das nicht gemeint … Ellie. Ich liebe Bücher.“

„Tatsächlich?“

„Wir hatten eine große Bibliothek auf unserem Landsitz. Mein Lieblingsort. Ach …“, seufzte er verzückt, „das waren noch Zeiten.“

„Ein Landsitz?“

„Ja. Alter englischer Landadel. Sehr traditionsbewusst. Verschlang allerdings Unsummen. Ich sollte eine vermögenden jungen Dame ehelichen, um unseren Fortbestand zu sichern.“

„Zwangsheirat“, sagte Ellie. „Gibt’s heute auch nicht mehr.“

„Erleuchtete Zeiten“, meinte Henry.

„Na ja, dafür gibt’s genug anderen Blödsinn“, sagte Ellie. „Wie ging es mit dir weiter?“

„Die Ehre besagter junger Dame wurde in den Schmutz gezogen. Ich forderte den Schurken, der üble Gerüchte verbreitet hatte, zum Duell im Morgengrauen.“

Henry strich sich gedankenverloren über das Loch in seiner Brust.

„Mist“, sagte Ellie.

„Posthum stellte sich heraus, dass ich etwas verteidigt habe, was schon lange nicht mehr existierte.“

„Doppelter Mist“, sagte Ellie mitfühlend.

„Aus unserem Landsitz wurde ein Luxushotel, aus der Bibliothek ein Spa und ich geistere seitdem herum.“

Sie goss noch etwas Whisky in Henrys Glas. Er lächelte dankbar und inhalierte tief.

„Und du, Ellie? Wenn ich fragen darf?“

„Klar. Man hat mich als Baby unter einer Brücke gefunden. Bin im Waisenhaus aufgewachsen, bis ich die Nase voll hatte und als Roadie bei einer Rockband einstieg. Irgendwann hat mir das auch gereicht. Es wurde Zeit, sesshaft zu werden. Jetzt schieb ich als Türsteherin ne ruhige Kugel. Mit der Liebe hat das bisher allerdings noch nicht geklappt.“

Henry nickte nachdenklich. Die Nachtigall vor dem Fenster jubilierte.

Henry räusperte sich leise und zitierte: „Entsinnst du dich der kleinsten Torheit nicht,/in welche dich die Liebe je gestürzt,/so hast du nicht geliebt./Und hast du nicht gesessen wie ich jetzt,/den Hörer mit der Liebsten Preis ermüdend,/so hast du nicht geliebt./Und brachst du nicht von der Gesellschaft los,/mit eins, wie jetzt die Leidenschaft mich heißt,/so hast du nicht geliebt.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln fügte er hinzu „Shakespeare: Wie es euch gefällt.“

Ellie wurde ganz warm ums Herz.

„Ich hab mir schon sehr lange einen Mann gewünscht, der feinsinniger ist, als die ganzen groben Bauerntrampel, die ich kennengelernt habe.“

„Und ich“, sagte Henry, „suche eine wahrhafte Liebe, eine, die mich nicht verrät und der Lächerlichkeit preisgibt.“

Sie sahen einander an.

„Deine Haut ist so grün wie das Moos auf meinem Grabstein“, flüsterte Henry. „Und deine Augen so dunkel und samtig wie frisch ausgehobene Friedhofserde.“

Ellie seufzte wohlig. Noch nie hatte ein Mann so mit ihr geredet. Aber … es gab da noch ein kleines Problem.

„Hattest du nicht gesagt, körperliche Genüsse seien dir verwehrt?“

Draußen begann die Kirchturmuhr Mitternacht zu schlagen.

„Außer … in der Geisterstunde”, lächelte Henry.

Vielleicht hatte sich der Algorithmus ja doch nicht geirrt.

 

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Ein neues Jahr, ein neues Thema. Diesmal lassen wir uns von unseren Lieblingssongs zu phantastischen Geschichten inspirieren.

Im März ist es der Song Come to My Window von Melissa Etheridge.

 

C.A. Raaven zeigt uns: Was es ist.

Maike Stein ist Auf dem Heimweg.

Und mit Alexa Pukall zusammen besuchen wir Das Haus des Magiers.

Viel Spaß beim Lesen.

 

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