Root, Snow & Thorn
Ich will von einer alten Frau erzählen, die sich und den Wald in ein Raumschiff verwandelt hat. Oder verwandelt haben wird? Es war einmal … oder es wird einmal sein … ein Raumschiff namens Root, frisch gebaut, gewachsen, behext. Es war einmal ein Wald voller Märchen, von der Wirklichkeit ausgebaggert, es war einmal … Schneewittchen und die sieben Zwerge. Dornröschen und ihr Prinz. Snowwhite, jetzt nur noch Snow genannt. Dornröschen, die Thorn gerufen werden will. Stachel.
Snow ist die Nummer Eins, Steuerfrau des Raumschiffes. Ihr schwarzes Haar trägt sie kurz, die weiße Uniform hat rote Knöpfe. Thorn, ihre Nummer zwei, Kommunikationsoffizierin, trägt einen langen blonden Zopf, ihre Uniform ist grün, mit roten Knöpfen. Snow und Thorn führen eine Flucht an. Mit an Bord die sieben Zwerge und Dornröschens Prinz, der sich unsterblich in Happy verliebt hat. Dazu diverse Kleintiere, ein Bambi und ein alter, zahnloser Wolf, der mit dem ebenso alten Jäger abends in der Kantine Mau-Mau spielt.
Sie alle wären nicht hier, hätte man nicht den alten Wald bedroht. Abreißen, ausbaggern, entwurzeln, planieren. Ein Einkaufszentrum sollte entstehen. Im Zentrum des Waldes, in der alten Eiche, lebte die Hexe. Eine launische Alte, die am Ende ihres langen Lebenswegs angekommen war und ihre Ruhe haben wollte. Doch als die Bagger kamen und die erschöpften, panischen Märchenwesen sie um Hilfe baten, nahm sie ihre letzten Kräfte zusammen. Während eines großen Vollmondrituals verwandelte die Hexe den Wald in ein lebendes Raumschiff, aus Holz gewachsen, und sich selbst in dessen Herz, dessen Antriebskraft, dessen Schutzhülle. Root war sie, Wurzel, und die Reise zu den Sternen begann.
Doch auch der Raum zwischen den Sternen wurde längst erobert, beansprucht, vermarktet. Und es war ein Raumschiff der Zucker-Musk-Klasse, ein unerbittlicher Jäger, gefürchtet im ganzen All, der ihre Bahn kreuzte.
„Wir sind im Arsch“, sagte Brummbär.
„Root, haben wir Waffen an Bord?“, fragte Snow das Schiff.
„Dornenschleudern und Kastanienkanonen“, antwortete Root.
„Wir sind so was von am Arsch“, sagte Brummbär.
„Still!“, befahl Thorn, „Ich kriege eine Nachricht rein.“
„Kommt zur fantasielosen Seite, kommt zu uns!“, dröhnt eine dunkle Stimme durch die Kommandozentrale. „Wir haben Geld und Ruhm und Macht.“
„Und Kekse?“, will Happy wissen.
Verdutztes Schweigen, leises Hintergrundrauschen, entfernt ist eine Stimme zu hören, die „Haben wir Kekse?“, fragt.
Snow und Thorn starren Happy an.
„Wir sind so was von …“, beginnt Brummbär, beide unterbrechen ihn sofort.
„Psst!“
Die dunkle Stimme dröhnt: „Schokolade mit Rosinen, gerade frisch gebacken in unserer Kantine.“
„Oh“, macht Happy leise und sehnsüchtig.
„Was wollt ihr von uns?“, erkundigt sich Snow mit kalter Stimme.
„Euer blütenweißes Image nutzen, um unsere dunklen Pläne voranzubringen. Schneewittchen als Werbefigur für das neue Einkaufszentrum, zum Beispiel. Oder Bambi als Symbolfigur für unsere Schlachtereibetriebe. Es gibt nichts, was ihr nicht verkaufen könntet.“
Bambi blökt erschüttert.
„Niemals!“, ruft Snow und alle anderen nicken entschlossen.
„Dann werden wir euch vernichten!“
„Lieber sterben wir, als für euch Ausbeuter zu arbeiten!“, rufen Snow und Thorn.
„Aber, die Kekse …?“, flüstert Happy.
„Ich sags doch“, sagt Brummbär.
„Ihr habt es so gewollt!“, dröhnt die Stimme.
„Root, mach die Dornenschleudern klar!“, befiehlt Snow.
Im selben Augenblick feuern die tödlichen Laserkanonen des Zucker-Musk Schiffes los. Root zuckt zusammen, schreit auf, alle purzeln durcheinander.
„Wir sind getroffen!“, ruft Thorn.
„Ach nee“, grummelt Brummbär.
„Root, wie geht es dir, alles ok? Kannst du die Dornenschleudern und die Kastanienkanonen abfeuern?“
„Na, das wird echt was bringen“, sagt Brummbär.
„Ich geh’ so lange in die Küche, Kekse backen“, sagt Happy.
„Sie haben mein Hinterteil beschossen!“, klagt Root. „Aber ich bin noch einsatzbereit. Schleudern und Kanonen aktiviert. Eins, zwei drei, Feuer!“
Ein Rauschen ertönt wie Regen im Wald.
„Haben wir sie erwischt?“, fragt Thorn aufgeregt.
Wie zur Antwort lacht die dunkle Stimme dröhnend. „Ist das alles, was ihr könnt?“
„Wir sind am Arsch“, sagt Snow und Brummbär kann noch nicht mal bestätigend nicken, so deprimiert ist er.
„Bring uns näher ran!“, fordert Root die Kapitänin auf.
„Das ist reiner Selbstmord!“, sagt Thorn.
„Ich habe einen Plan“, entgegnet das Schiff.
„Wie nahe?“, will Snow wissen.
„Ganz nah!“
Und Snow fliegt, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben geflogen ist. Duckt sich unter den Laserstrahlen durch, als wären es vergiftete Äpfel, von der bösen Stiefmutter geworfen. Kommt dem feindlichen Schiff näher und näher …
„Andocken!“, ruft Root.
„Was? Wir sollen beim Feind …?“
Thorn versteht die Welt nicht mehr. Brummbär schlägt die Hände vors Gesicht.
Aber Snow vertraut ihrem Schiff und mit einem letzten, waghalsigen Manöver steigt sie dem Zucker-Musk aufs Dach.
„Ha ha, ihr seid wohl lebensmüde?“, freut sich die dunkle Donnerstimme.
„Was jetzt, Root?“, flüstert Snow.
„Jetzt“, sagt das Schiff, das mal ein Wald gewesen ist, „jetzt tue ich das, was Bäume von Anbeginn aller Zeiten getan haben: Ich schlage Wurzeln.“
„Sie schlägt Wurzeln?“, wiederholt Thorn fassungslos.
„Ha ha“, dröhnt die dunkle Stimme, „das ist das Dümmste, was ich je …“
Ein durchdringender Signalton schrillt los. Er kommt durch den Kommunikationskanal, vom anderen Schiff. Entfernt hört man Stimmen, die durcheinander rufen:
„Boss, hier stimmt was nicht!“
„Hier wächst ein Wald durch die Decke!“
„Wurzeln“, sagt Snow und ein Lächeln erhellt ihr Gesicht, so schön, dass sogar Brummbär wieder Hoffnung fasst. „Baumwurzeln können überall hin, sie sprengen Stein, Beton, Asphalt, sogar Metall.“
Root streckt und dehnt sich wohlig, sie war viel zu lange auf viel zu engem Raum eingesperrt. Der Zucker-Musk Kreuzer ist im hand-, Pardon, wurzelumdrehen, gefechtsunfähig gemacht.
„Alles schön und gut, aber es werden andere kommen“, orakelt Brummbär. „Der hier ist nicht der einzige.“
Happy stürmt in die Kommandozentrale. „Ich kann nicht backen!“ Er hat einen kleinen Topf mit einem Baumsetzling mitgebracht und hält ihn anklagend hoch. „Die ganze Küche steht voll davon!“
Root kichert. Snow und Thorn wechseln einen Blick. Sie verstehen sich sofort.
„Die werden wir an die Rebellen im ganzen Weltall verteilen“, sagt Snow.
„Wurzelrevolution!“, ruft Thorn.
„Wurzelrevolution!“, schallt es durch das ganze Schiff.
Und so geht die Geschichte. Manche erzählen, dass das Schiff noch heute irgendwo da draußen ist, unermüdlich den Armen und Unterdrückten der Galaxis helfend. Die Macht der Wurzeln über das Metall demonstrierend.
Denn, wenn sie nicht gestorben sind …
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