Ihr Freund Fred

Ihr Freund Fred

Marie nimmt Abschied. Der nette neue Pfleger hat ihren Rollstuhl heute zum letzten Mal auf die Seepromenade geschoben, gleich neben eine Bank. Dann ist er zum kleinen Kiosk ein paar Meter weiter gegangen, wo er raucht und mit der Verkäuferin flirtet.

Sonnenstrahlen tanzen auf dem Wasser, es ist ein schöner Frühsommermorgen. An der Dampferanlegestelle liegt die River Queen und wartet auf Besucher. Zwei kleine, weiße Busse rollen an. Tagespflege Haus Sonnenhöhe steht an der Seite. Türen rollen seitlich auf, hinten wird eine Rampe ausgefahren. Die Busse speien kleine, gebeugte Gestalten aus, die verwirrt ins Sonnenlicht blinzeln. Fröhlich-energisch werden sie vom mitgelieferten Begleitpersonal zur Anlegestelle hinüber gescheucht.

Marie sieht sich um. Links grenzt der Wald an den See, rechts die Häuser der Stadt. Nach vorne hin verliert er sich am Horizont. Sie mag es, wie weit hier der Blick schweifen kann. Ungebremst von Steinmauern und Zäunen. Marie kam jeden Tag hierher. Das wird sie vermissen. Aber eines wird sie noch viel mehr vermissen, oder besser: Einen.

Schwäne fauchen einen kleinen, neugierigen Hund an, der erschrocken aufjault und weiterläuft.

Ein kleiner alter Herr ist ausgebüxt und erstaunlich schnell zum Kiosk hinüber geflohen. Er beugt sich vertraulich zu der jungen Verkäuferin, schiebt ihr Geldstücke zu. Sie reicht ihm eine Flasche Bier heraus, die er umgehend in seiner Jackentasche verschwinden lässt. Seine Betreuer rufen bereits nach ihm. Er schlurft beschwingt wieder zurück.

Maries neuer Pfleger tauscht einen raschen Blick und ein kleines Lächeln mit ihr. Er winkt, sie winkt zurück. Der Junge ist in Ordnung. Schade, dass das nicht reicht. Marie kommt alleine einfach nicht mehr klar. Sie hat immer öfter so merkwürdige Phasen, dann kann sie sich an nichts mehr erinnern und macht nur noch Blödsinn. Die Beine wollen auch nicht mehr so richtig. Immer dieses Zittern. Viel zu oft fällt sie um. Sie hätte die letzten Jahre ihres Lebens gerne ohne diesen Mist verbracht, schönen dank auch.

Marie lässt unruhig ihren Blick schweifen. Links auf der Promenade schieben zwei junge Mütter ihre Kinderwagen gemächlich am See entlang. Von rechts joggt ein junger Mann keuchend vorbei.

Und da, da kommt er endlich lässig herangeschlendert: Fred, ihr Freddy! Er trägt, wie immer, einen tadellos sitzenden dunkelgrauen Anzug, eine meeresblaue Krawatte und hochglanzpolierte Schuhe. Fred ist eben ein echter Gentleman alter Schule.

„Da bist du ja, meine Liebe. Was für ein erfrischender Anblick für meine alten Augen!“

Er beugt sich über Maries rechte Hand und haucht einen Kuss darauf. Sie schnuppert, er riecht gut. Nach irgendeinem Eau de Cologne mit Sandelholz und Meer.

„Leider nicht mehr lange“, sagt Marie.

Bestürzt lässt Freddy sich neben ihr auf die Bank sinken. Marie späht nach ihrem neuen Pfleger, aber der ist ganz in ein sichtlich anregendes Gespräch mit der Verkäuferin vertieft. Gut.

„Was willst du damit sagen?“

Marie seufzt. Plötzlich fehlen ihr die Worte. Fred zieht ein blütenweißes Leinentaschentuch aus seinem Jackett und reicht es ihr. Jetzt erst merkt sie, dass ihre Wangen feucht sind.

„Aber, Aber. Wer wird denn an so einem wunderschönen Sommertag traurig sein?“

„Ich muss ins Altersheim.“

Der Dampfer tutet dreimal und legt ab. Eine Ente quakt aufgebracht. Marie tupft sich die Wangen ab und atmet tief durch.

„Das Heim scheint in Ordnung zu sein, ich habe es mir bereits angesehen. Also, jedenfalls so in Ordnung, wie man das für einen solchen Ort erwarten kann.“

Fred nickt nachdenklich.

„Und zu Hause komme ich alleine einfach nicht mehr klar. Da ist es schon besser, wenn ich dort bin, wo ich auch Hilfe bekommen kann.“

Vor ihren Füßen hüpfen Spatzen herum, in der Hoffnung auf Brotkrümel. Fred zieht eine kleine Tüte mit Studentenfutter aus seiner anderen Jackentasche und streut den Spatzen Sonnenblumenkerne hin.

„Vielleicht findest du dort auch neue Freunde“, meinte Fred leichthin.

Marie spürt einen heißen Schrecken in der Brust. Er hat genau das gesagt, was sie am meisten fürchtete. Sie knüllt unwillkürlich das feuchte Taschentuch zusammen.

„Das wäre natürlich schön“, sagt sie und man kann es kaum hören, weil die Spatzen so fröhlich tschilpen. „Aber …“ Marie schluckt. Es ist so schwer auszusprechen. Sie möchte nicht weinerlich klingen und allzu anhänglich oder aufdringlich schon gar nicht. „Du … Fred …“

„Ja, meine Liebe?“

Jetzt hat sie seine ganze Aufmerksamkeit.

„Wir kennen uns jetzt schon so lange …“

Die Tränen kullern wieder. Fred nimmt behutsam ihre Hand und drückt leicht.

„Liebste Marie, unsere Freundschaft bedeutet mir alles. Du kennst mich wie kein anderer und erst durch dich werde ich so richtig lebendig.“

„Das geht mir genauso. Aber …“

„Wo auch immer du hingehst, ich werde da sein. Ich verlasse dich nicht. Niemals.“

Marie sucht in seinen Augen und findet nichts als die Wahrheit. Ihre Erleichterung ist grenzenlos. Sie drückt seine Hand zurück und beide sitzen einfach da, still und vereint.

Der neue Pfleger kommt herübergeschlendert. Er ignoriert Fred, konzentriert sich ganz auf Marie.

„Zeit, zu gehen. Alles in Ordnung bei Ihnen?“

„Ja, natürlich. Mir geht es gut.“

Fred steht auf. Er zieht seinen Zylinder und verbeugt sich schwungvoll vor Marie.

„Ich frag ja nur. Sah so aus, als hätten Sie ein kleines Selbstgespräch geführt.“ Der junge Mann löst die Rollstuhlbremse. „Nichts gegen Selbstgespräche. Ich quatsche manchmal auch vor mich hin, meistens dann, wenn ich besoffen bin. Aber in Ihrem Alter sollten Sie ein bisschen aufpassen.“

Er macht eine vielsagende Bewegung mit dem Finger zur Schläfe hin.

„Nicht, dass Sie am Ende noch in der Spezialabteilung für die Durchgeknallten landen.“

Er lacht herzlich. Dann wird er plötzlich ernst.

„Das war doch ein Selbstgespräch, oder?“

„Natürlich“, sagt Marie und wirft einen schnellen, entschuldigenden Blick in Freds Richtung. Der zwinkert schelmisch zurück.

„Imaginäre Freunde sind ja gut und schön, wenn man ein Kind ist, aber als Erwachsener …“

Der junge Mann schiebt den Rollstuhl an.

„Na, dann wollen wir mal.“

Marie blickt noch einmal über die Schulter zurück. Fred steht bei der Bank und winkt. Seine Lippen formen Worte: Bis bald!

Marie lächelt.

 

 

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