Ich und ich

Ich und ich

Eines Nachts kam Ich aus dem Spiegel und saß mir des Morgens am Frühstückstisch gegenüber. Ich blinzelte mich aus leicht verquollenen Augen an, hielt meinen Kaffeebecher mit beiden Händen umschlungen und hoffte, das bittere, dunkle Getränk würde, wenn nicht schon die Situation erklären, dann doch wenigstens meine schläfrigen Gehirnwindungen zu entsprechenden Theorien ermuntern. Morgens ist keine gute Zeit für mich.

„Guten Morgen!“, sagte Ich mit einer munteren Stimme, die auf der Klaviatur meiner Nervenseiten herumklimperte wie eine Katze, die über die Tasten huscht.

„Gumo“, nuschelte ich und trank mehr Kaffee.

„Falls du dich wunderst, ich bin heute Nacht aus deinem Spiegel gekommen.“

So viel Kaffee konnte ich gar nicht trinken. Mein Kopf schüttelte sich von alleine. Unmöglich. Dieses muntere, gepflegte Ich, das hier vor mir saß, konnte unmöglich das ich sein, das ich jeden Tag im Spiegel sah: ungeschminkt in Jeans und T-Shirt, einige Falten zu viel, noch mehr Pfunde viel zu viel. Angegrautes Haar, angegraute Seele. Die konnte man manchmal sehen, wie sie furchtsam aus den Fenstern meiner Augen nach draußen spähte. Meine Seele war ein Hasenfuß, sie fürchtete sich vor der Welt. Die Seele meines Gegenübers hingegen, die lachte der Welt frech ins Gesicht, das war in den napoleonblauen Augen klar zu erkennen.

„Der frühe Vogel frisst den Wurm!“, sagte Ich fröhlich und nahm einen kräftigen Schluck von einem dickflüssigen Getränk, das aussah wie Babydurchfall mit Spinat.

„Mag keine Würmer“, murmelte ich.

„Powersmoothie!“, strahlte mein Gegenüber und prostete mir zu. „Voller Vitamine und Mineralstoffe. Wusstest du, dass Kaffee einem die Magenwände zerfrisst?“

Trotzig trank ich, verschluckte mich und spie ein wenig braune Brühe auf das rot karierte Tischtuch.

Mein Gegenüber rümpfte ihr Näschen (da hatte sie doch was machen lassen!) und tupfte sich mit einem blütenweißen Baumwolltaschentuch (so was besaß ich doch gar nicht), ein paar imaginäre Flecken von er weißen Bluse (OMG, eine weiße Bluse, die würde bei mir höchstens fünf Minuten lang makellos bleiben).

„Wahrscheinlich schlafe ich noch“, entschied ich, obwohl der Kaffee langsam seine Wirkung tat.

„Oh nein!“, entgegnete Ich entschieden. „Du bist durchaus wach und lebendig, auch wenn ich das eher als existieren und nicht als leben bezeichnen würde, was du da tust.“

Nun beleidigte ich mich also schon selbst.

„Sieh dich doch an!“

Das täte ich ja, aber der Spiegel funktionierte nicht mehr.

„Oder besser, sieh mich an!“ Mein Gegenüber spreizte ihr imaginäres Gefieder wie ein Pfau. Eine Frau in den besten Jahren, die sich durch Diät und Fitnesstraining ihre jugendliche Figur erhalten hatte. Die Haare beim besten Frisör der Stadt lässig geschnitten, locker geföhnt, honigblond gefärbt. Ein gekonntes Make-up, das ihre vollen Lippen betonte, ohne dass auch nur das geringste bisschen Rot in die feinen Fältchen drumherum floss. Leicht gebotoxt obendrein und ja, sie hatte sich definitiv die Nase zum Stupsnäschen schneidern lassen. Albern. Aber der Gesamteindruck war der feuchte Traum aller Brigitte-Leserinnen. Die erfolgreiche Powerfrau mit ihrem Powersmoothie auf dem Weg in die Firma, wo sie einen verantwortungsvollen Posten bekleidete.

„Ich war es leid, jeden Tag deine traurige Gestalt im Spiegel zu sehen“, sagte sie und schlürfte geziert ihren Smoothie aus. „Dazu die ganzen Selbstgespräche, die Verhandlungen. Morgen fange ich mit meiner Diät an, heute esse ich noch dieses leckere Stück Kuchen. Morgen gehe ich den Chef nach Gehaltserhöhung fragen. Morgen fällt mir eine schlagfertige Bemerkung ein, wenn sich wieder einer in der Supermarktkasse vor mich drängt. Morgen mache ich tolle Selfies und melde mich bei Parship an. Morgen, morgen, morgen. Soll ich dir was sagen?“ Sie strahlt. „Morgen ist heute und heute ist meine Zeit.“

Mir fiel keine schlagfertige Bemerkung ein. Dafür kroch ein leichter Schauer meinen Rücken herunter wie ein zitterndes Faultier.

„Und was wird mit mir?“

„Wen interessierts, du Loser? Für solche wie dich ist in der Gesellschaft kein Platz mehr. Was nicht richtig funktioniert, wird aussortiert. Wir füttern keine Minderleister mehr durch.“

Ich begriff nicht, wie ich so gemein zu mir sein konnte. Dann erinnerte ich mich dunkel an einige nächtliche Selbstgespräche und schämte mich für mich selbst. Nur weil ich nicht aussah wie ein Brigitte-Model oder eine Instagram-Influencerin, nur weil ich Schwierigkeiten hatte, in dem Haifischbecken, das meine Firma war, überhaupt den Kopf über Wasser zu halten, nur weil ich nicht schlagfertig, ein wenig einsam und langsam alt war, sollte ich gleich ein Loser sein und aussortiert werden? Wer hatte mir das denn in den Kopf gesetzt?

„Meine alte Geschichtslehrerin hatte ja immer behauptet, der Kapitalismus wäre an allem Schuld.“

Mein Gegenüber rümpfte ihr Näschen. „Immer sind die anderen Schuld. Einfach mal selbst Verantwortung übernehmen. Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens. Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner! Wer in Jogginghosen herumläuft, hat die Kontrolle über sein Leben verloren! Nimm ab und kauf dir mal ein paar schöne Klamotten. Glotz nicht soviel Netflix, ernähre dich gesünder. Geh raus, triff Freunde. Nimm an der betrieblichen Fortbildung teil. Netzwerke mit deinen Kolleginnen. Lies den politischen Teil der Tageszeitung, lies überhaupt eine Tageszeitung! Sei spontan! Leg dir eine positive Einstellung zu! Und vor allem: Lächle doch mal!“

Ich spürte eine lähmende Müdigkeit, der noch nicht mal der Kaffee beikommen konnte. Meine Mundwinkel sackten von ganz alleine in den Keller. Da konnten sie gleich meiner Seele Gesellschaft leisten, die zitternd in einer dunklen Ecke hockte und sich nicht mehr heraustraute, solange Ich noch da war.

„Aber nein, das schaffst du alles nicht. Und deshalb bin ich jetzt da. Um das Leben zu leben, dass du dir immer gewünscht hast, aber nie den Mumm dazu hattest!“

Sie schob energisch den Stuhl nach hinten und stand auf, strich sich den grauen Rock ihres schicken Businesskostüms glatt.

„Ich habe heute eine Gehaltsverhandlung, und ich werde bekommen, was ich will“, stellte sie fest. Daran hatte ich nicht den geringsten Zweifel.

„Du kannst ja wieder ins Bett zurückgehen.“

Die Wohnungstür schlug zu. Ein Hauch von Boss femme lag noch in der Luft.

„Du kannst wieder rauskommen“, flüsterte ich meiner Seele zu. „Sie ist weg“

„Geleebananen?“, flüsterte meine Seele zurück.

„Geleebananen“, bestätigte ich.

Gemeinsam plünderten wir die Süßigkeitenschublade.

Eigentlich hätte ich traurig sein sollen, deprimiert, wegen der vertanen Gelegenheit, den entgangenen Chancen. Dem tollen Leben, was ich nun verpassen würde, und wonach ein Teil von mir immer gestrebt hatte. Oder nur zu streben glaubte? Da ging sie hin, schlank, erfolgreich, dynamisch, mit einer tollen Karriere vor sich und einem eleganten Zukünftigen an ihrer Seite. Sie ging hin und tat all das, was ich immer geglaubt hatte, tun zu müssen. Folglich konnte ich mir die Mühe sparen. Eine Erleichterung, so hoch und weit wie der sommerblaue Himmel da draußen, breitete sich in mir aus.

Fort war sie, die innere Stimme, dieser kleine Quälgeist, der mir immer weismachen wollte, dass ich nur was wert sei, wenn ich auch was leiste.

Fort.

Ich aß Geleebananen und vor mir breitete sich die Landschaft meiner Zukunft aus. Dann nahm ich meine Seele an die Hand. Wo es von jetzt an hinging, würden wir gemeinsam entscheiden.

 

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Drei Autor*innen, ein Thema, drei Kurzgeschichten. Jeden Montag eine, reihum auf unseren Blogs kostenlos zu lesen, damit eure Woche einen wahrhaft phantastischen Start hat: Das ist #phantastischermontag. Im September lassen wir uns von einem Zitat der amerikanischen Fantasy- Autorin Lynn Flewelling zu unseren Storys inspirieren:

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