Die Bücherfresser

Die Bücherfresser

„Alles Unheil kommt vom Weib“, sagte der dürre Priester und tupfte sich geziert die fettig glänzenden Lippen mit einem feinen Leinentuch ab.

„Hört, hört“, sagte der dicke Politiker und füllte sein Glas zum vierten Mal mit Rotwein.

„Um es mit Johann Gottfried Herder zu sagen“, zitierte der elegant gekleidete Schriftsteller: „Eine Henne, die kräht, und ein Weib, das gelehrt ist, sind üble Vorboten: Man schneide beiden den Hals ab.“

Rings um den Tisch herum ertönte beifälliges Gelächter. Das monatliche Treffen der Bücherfresser im Fünf-Sterne-Restaurant Words, Words, Words war in vollem Gang. Man kam im luxuriös ausgestatteten Hinterzimmer zusammen und speiste auf weichen, schwarzen Ledersesseln, unter den wohlmeinenden Augen der Porträts ihrer großen Vorbilder: Heinrich der Achte, Casanova, Marquis de Sade, um nur einige zu nennen. Die Luft war dick mit Bratenduft, Zigarrenrauch und dem feinen Aroma kostspieliger Weine.

Natürlich nannten die Bibliophagen sich nicht so. Sie waren die Adamisten, nach Adam, dem ersten Mann auf Erden, und das Aufnahmeverfahren durchliefen nur ein paar handverlesene junge Männer ein Mal im Jahr.

„Was sagt denn unser neuer junger Freund dazu?“, erkundigte sich ein jovialer Vorstandsvorsitzender. Alle Gesichter wandten sich dem unteren Ende der schön gedeckten Speisetafel zu. Dort saß ein schmaler Jüngling mit braunen Locken, der eine violette Samtweste und ein weißes Rüschenhemd trug; Sieger des diesjährigen Auswahlverfahrens, in dessen Augen ein stilles Feuer loderte. Er sah wie ein junger Lord Byron aus und wurde nicht nur vom Priester begehrlich beäugt.

Der junge Mann zögerte. Er ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Ein kleiner, exklusiver Club, dessen Mitglieder zu den reichsten, skrupellosesten und erfolgreichsten ihrer jeweiligen Zunft zählten.

„Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht“, ließ er sich mit klarer heller Stimme vernehmen.

Die Adamisten lachten beifällig.

„Recht so. Er kennt seinen Nietzsche“, rief der Architekt.

„Diese Erstausgabe von Zarathustra war lecker“, erinnerte sich der Priester.

Ein Chefarzt stand auf, bat um Ruhe und erhob sein Glas.

„Werte Mitglieder, liebe Freunde. Wir heißen heute einen Neuling willkommen, der, wie es der Brauch will, uns zum Einstand eine ganz besondere Spezialität kredenzen wird.“

„Hört, hört.“

Man beugte sich gierig vor. Es sah so aus, als würden einige hoffen, der junge Mann kredenzte sich selbst. Aber das Objekt ihrer Begierde machte keinerlei Anstalten dazu. Er saß ruhig und sehr aufrecht auf seinem Platz und beobachtete alles mit aufmerksamem Blick.

„Wir aßen Henry Miller, D.H.Lawrence und Norman Mailer“, fuhr der Chefarzt fort. „Wir delektierten uns an Friedrich Nietzsche, Machiavelli und Schopenhauer.“

„Oh, das Nietzsche-Ragout“, schwärmte der Architekt mit verklärtem Blick. „Die Machiavelli-Pasteten, die Schopenhauer-Wurst und erst die Henry-Miller-Burger.“

Zustimmendes Gemurmel am Tisch.

Der Chefarzt nickte. „Wir halten uns nicht mit Buchstabensuppe oder Russisch Brot auf. Wir nehmen die Wörter der großen Philosophen, der großen Denker und machen sie uns zu eigen, indem wir sie uns direkt einverleiben!“

„Jetzt reimt er sich sogar“, kicherte der Politiker.

„Worte haben Macht, Worte sind Macht, aus Worten werden Taten, und Taten beherrschen die Welt. Wir beherrschen die Welt. Nicht die Weibsbilder, die Fräulein, die Emanzen, nicht die Gutmenschen, die uns alle in den Ruin treiben wollen!“, dröhnte der Chefarzt.

„Gutmenschinnen!“, verbesserte der Schriftsteller mit öligem Grinsen.

Gelächter, vereinzelte Buhrufe.

„Wir erheben unser Glas auf unser neues Mitglied: Orlando!“

Alle erhoben sich. Rotwein funkelte in Kristallkelchen wie frisches Blut im Kerzenlicht.

„Orlando!“, ertönte es.

Man setzte sich wieder.

„Was hast du uns heute schönes mitgebracht?“, erkundigte sich der Priester.

Schweigen legte sich über den Tisch. Alles lauschte interessiert.

Der junge Mann räusperte sich: „Ein Nervenarzt namens Paul Julius Möbius veröffentlichte im Jahre 1900 ein Pamphlet, das er Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes betitelte. Darin versucht er, die physiologische Minderwertigkeit von Frauen zu beweisen. Seiner Meinung nach waren gesunde und fruchtbare Frauen dumm.“

Eine Welle von Beifall brandete auf. Wein wurde nachgeschenkt.

„Ich habe ein Exemplar der Erstausgabe beim Antiquar meines Vertrauens erstehen können“, fuhr er fort. „Dieses verbrannte ich, mahlte die Asche fein und verarbeitete sie zu exquisiten, hauchdünnen Crêpe Suzette für unser aller Dessert.“

„Ah!“

„Oh!“

„Ich liebe Süßigkeiten“, sabberte der Politiker.

Orlando nahm ein Glöckchen zur Hand und läutete. Alsbald tat sich die Tür auf und die weiß gekleideten Kellner trugen den Nachtisch herein.

„Guten Appetit!“, wünschte Orlando.

Das ließ man sich nicht zweimal sagen. Die Herren begannen sofort, gierig zu schlingen. Im Handumdrehen waren die Teller leer, nur der junge Neuling ließ sich Zeit und aß mit sichtlichem Genuss.

„Ich glaube, ich brauche einen Schnaps zur Verdauung“, sagte der Priester.

Er war leicht grün im Gesicht.

„Zwei Schnäpse“, forderte der Politiker, der sehr blass geworden war.

„Mir ist übel“, hauchte der Schriftsteller.

Der junge Mann sah sich ruhig um. Er war das Bild blühender Gesundheit, seine Wangen rosig überhaucht, seine Lippen weich und rot.

„Mit dem Pamphlet stimmt was nicht“, stöhnte der Architekt und hielt sich den Bauch.

„Eine allergische Reaktion?“, vermutete Orlando.

„Wir haben auf keine unserer Textspeisen bisher allergisch reagiert. Weder auf Nietzsche noch auf de Sade, ganz im Gegenteil. Alle diese Bücher, geschrieben von Männern für Männer, erfüllten uns mit Wissen und Stärke!“, protestierte der Schriftsteller.

Orlando stand auf. „Dann liegt es vielleicht daran, dass ihr euch gerade ein Buch von einer Frau, geschrieben für Frauen, einverleibt habt.“

Allgemeines Protestgeschrei erhob sich, erstarb aber gleich wieder. Hinten am Tisch übergab sich ein Verkehrsminister in die Suppenschüssel.

„Ich habe eine Erstausgabe von Virginia Woolfs Ein Zimmer für sich allein verbacken.“

Wütendes Stöhnen am Tisch.

„Woolf hatte schon damals recht, die Welt ist voll zorniger Männer, die Frauen nur als Spiegel brauchen, Spiegel „mit der magischen und erhebenden Kraft, die Gestalt des Mannes in doppelter Größe wiederzugeben“. Dabei habt ihr Männer nur Angst euer eigenes aufgeblähtes Selbstwertgefühl zu verlieren. Denn wenn Frauen sich emanzipieren, geht euch der Spiegel verloren!“

„Du bist eine Schande für dein Geschlecht“, murmelte der Priester und krümmte sich.

„Verräter!“, schimpfte der Architekt.

„Aber ich bin kein Mann“, erklärte Orlando.

„Unmöglich!“, keuchte der Schriftsteller.

„Möglich“, stellte Orlando ruhig fest. „Und ich bin hier, um euch etwas beizubringen. Gleichberechtigung, Emanzipation für alle Frauen, Lesben, Schwule, für Bi, Trans, Queer, Intersex und Asexuelle, egal welcher Farbe!“

Die Männer um den Tisch herum krümmten sich noch mehr. Jedes Wort traf sie wie ein Peitschenhieb, sie keuchten und husteten, sie spien und würgten, aber es gab kein Entkommen. Die Worte waren gefressen, jetzt wurden sie verinnerlicht.

„Zum Wohl!“

Orlando leerte ihr Weinglas, dann ging sie, ließ sie das Restaurant und die sich hilflos windenden Männer hinter sich.

Es gab noch viel zu tun.

 

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