Der Kinobesuch der alten Dame oder Niemand stirbt

Der Kinobesuch der alten Dame oder Niemand stirbt

Im Kino riecht es nach warmem Popcorn. Die alte Dame blinzelt im Halbdunkeln, sucht ihren Sitzplatz. Ganz hinten, Mitte. Da hat sie den besten Blick. Sie schiebt ihre arthritischen Hüften vorsichtig durch die Reihe, findet ihren Sessel und lässt sich hinein sinken. Geschafft.
Wenn die Heimleiterin entdeckt, dass sie ausgebüxt ist, wird sie ihr den Nachtisch streichen. Für mindestens einen Monat. Aber das ist es ihr wert. Denn der heutige Film ist eine Sondervorstellung. Etwas, dass es nur einmal gibt.
Die alte Dame versucht, sich das 3-D-Ding über ihre Brillengläser zu ziehen. Früher hatten sie diese Sachen noch nicht. Da konnte man die Filme noch ganz normal gucken. Jetzt brüllt der Surround-Sound in ihre Ohren und die Lasershow schmerzt ihre Augäpfel. Aber auch das nimmt sie in Kauf. Sie will diesen Film unbedingt sehen. Auf der großen Leinwand. Die alte Dame ist schon sehr lange ein echter Fan. Leider starb die Serie im Fernsehen irgendwann, und lange Zeit gab es nichts, schon gar keine Kino-Sondervorstellungen. Dann entdeckten die Teenies die Serie neu und begeisterten sich dafür. Nun sitzt die alte Dame im Kino, freut sich auf das Weihnachts-Special, welches gleich anfängt und ist die Älteste. Um sie herum Jungs und Mädchen, viele in T-Shirts, auf denen eine alte blaue Polizei-Box abgebildet ist. Einige der Jungs tragen eine rote Fliege, manche ein komisches Hütchen. Einen Fez. Ein Mädchen ist laut ihrem T-Shirt Aufdruck The Girl Who Waited. Die alte Dame hätte auch gerne so ein T-Shirt. Sie hat ihr ganzes Leben lang gewartet. Darauf, das endlich was passiert. Darauf, dass es endlich anfängt mit ihrem Leben. Sie hat alles gemacht, was man so machen sollte. Sie hat geheiratet, zwei Kinder geboren und großgezogen, sie hat gearbeitet, sie hat ihren Mann geliebt und schließlich begraben. Die Kinder sind in Ordnung, haben ihrerseits schon Kinder, sind einigermaßen erfolgreich im Beruf und wohl ganz zufrieden. Leider kommen sie nicht allzu oft ins Heim auf Besuch, aber so ist das nun mal. Sie haben ihr eigenes Leben und das versteht die alte Dame natürlich. Keine Zeit, nicht für Oma und nicht für alte Serien. Die alte Dame hofft, dass ihre Kinder und Enkelkinder nicht warten. Sondern ein ausgefülltes, zufriedenes Leben führen. Das junge Mädchen mit dem Shirtaufdruck macht jedenfalls einen zufriedenen Eindruck. Der Junge, der neben ihr sitzt, trägt ein T-Shirt auf dem Big Bad Wolf steht. Er sieht harmlos aus und der Blick, mit dem er seine Begleiterin betrachtet, hat etwas liebevoll schafsmäßiges.
Die alte Dame seufzt leise. Es war nie ganz das, was sie sich erhofft hatte, als sie klein war und noch Hoffnungen hatte. Hoffnungen auf das ganz große, bunte Leben, auf Abenteuer, tolle Männer, fantastische Reisen. Sie wartet immer noch. Selbst in der nach Desinfiziermitteln und voll gemachten Windeln riechenden Endstation wartet sie noch. Aber nicht auf das, auf das alle anderen warteten.
Heute Abend wartet sie nur auf eines. Und das bekommt sie auch: das Licht geht aus, der Film beginnt. Endlich. Eine Zeitreise in ferne Galaxien. Alte Bekannte, neu erlebt. Ein Wesen, das nur noch als hauchdünn gespanntes Gesicht existiert, welches ständig befeuchtet werden muss. Eine Puppe, die lebendig wird. Cybermen, die aus Menschen Robotern machen. Das Ende der Welt steht unmittelbar bevor, nur der Mann mit dem galaktischen Schall-Schraubenzieher kann es aufhalten. Und natürlich seine hübsche, intelligente Begleiterin.
Da, ein Zeitsprung! Das Ende naht! Blaulicht, eine Sirene. Warnung, Warnung! Die alte Dame steckt sich die Finger in die Ohren. Was nichts nützt. Der Ton brummt durch sie hindurch, vibriert in ihrem Brustkorb. Das war ja schlimmer als die Rockkonzerte, die sie sich früher reingezogen hatte, als sie noch jung war. Die blaue Polizeibox rast durchs All direkt auf sie zu, platzt aus der Leinwand. Ihre 3-D-Brille verrutscht vor Schreck, das Bild verrutscht mit. Ihr Leben wird schief. Plötzlich weiß sie nicht mehr, wo oben und unten ist. Der dunkle Kinosaal, die grell blitzende Leinwand, aus der eine endlose Reihe von kleinen fiesen Robotern marschiert. Exterminate! Die Musik schwillt an, lauter, immer lauter und das Licht schiebt sich in ihren Kopf hinein, wo es in tausend kleinen Sternen zerbirst. Die alte Dame kann sich nicht länger aufrecht halten. Ein Glück, dass diese modernen Kinosessel so weich und bequem sind.
The Girl Who Waited entdeckt sie zuerst, als das Licht wieder angeht. Sie stößt einen spitzen Schrei aus, und die alte Dame denkt, das Surround-System verblasst daneben. Sie wird von blauen Polizeiboxen umringt. Eine Stimme ertönt:
„Lassen sie mich durch. Ich bin …“
„Der Doktor“ murmelt die alte Dame. Endlich. Er ist jung, dünn und trägt eine rote Fliege. „Ich habe so lange gewartet.“
Er beugt sich zu ihr, nimmt ihre Hand. Flüstert leise etwas. Sie hört endlich das, worauf sie ihr Leben lang gewartet hat: „Lauf!“
Und ihr Herz läuft davon.
Der junge Arzt macht sich Vorwürfe, dass er nichts hatte tun können. Nicht, dass er es nicht versucht hätte. Aber dies ist der erste Mensch, der ihm unter den Händen weggestorben ist. Es wird nicht der Letzte sein. Später am Abend wird er mit seiner hübschen Freundin auf dem Sofa sitzen, ein Glas Wein trinken und darüber nachdenken, ob er ihr sagen will, dass er noch nie in seinem ganzen Leben jemanden hat so wunderschön lächeln sehen wie diese alte Dame.

Dann behält er es doch lieber für sich.

 

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Es war einmal eine Schreibblockade … Erst als ich mich auf dem Geschichten Blog von ClueWriting fest las, spürte ich zum ersten mal wieder ein gewisses Kribbeln in den Fingern. Die Stories sind kurz, witzig bis gruselig, unterhaltsam, fantasiereich. Aber das Beste ist ihre Entstehung: sie werden aus vorgegebenen Clues, aus Stichworten, gebastelt. Das können normale bis abstruse, komische und ganz nun gar nicht zusammengehörende Dinge sein, die man in einem festgelegten Setting unterbringen muss.
Allein schon die verschiedenen Kombinationen machten mir Schreiblust.

Und siehe da, es lief auch gerade ein Wettbewerb. Also lies ich mich zum Kinobesuch der alten Dame inspirieren und schrieb eine Kurzgeschichte. Es funktionierte, die Schreibblockade war überwunden! Und das meine Geschichte dann tatsächlich auch noch was gewonnen hat, war sozusagen das Sahnehäubchen obendrauf. Einen ganzen Stapel Richter Di, gesponsert vom Verlag die Waage.
Danke!

Also, wenn ihr feststeckt, stattet den Clue Writern einen Besuch ab. Macht mit, probiert euch aus, spielt, lasst euch inspirieren und eure Kreativität von der Leine.

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