Der Hühnergott

Der Hühnergott

Anja blinzelte glücklich. Auf dem Meer tanzten Sonnenflecken, Fischkutter stampften hinaus und die Luft schmeckte nach Salz.
„Na, gefällt’s dir?“, fragte Tim.
Er machte eine ausladende Handbewegung, die den Strand, die Promenade und den kleinen Urlaubsort direkt am Wasser mit einschloss.
„Sehr“, erwiderte Anja.
Sie liebte das Meer. Vor allem aber liebte sie Tim, seit dem sie sein Profilfoto auf Herzenspartner.de entdeckt hatte. Ein großer, blonder Wikinger mit blauen Augen und einem unwiderstehlichen Lächeln, das weiße Zähne blitzen ließ.
„Na los, gehen wir runter zum Strand.“ Tim schloss sorgfältig sein schickes Cabrio ab, nachdem er das Verdeck zugezogen hatte. „Ich will ja nicht, dass mir die Möwen die teuren Ledersitze verderben.“
Anja nickte. Das konnte sie gut verstehen.
„Nicht trödeln, Süße.“
Anja stolperte hinter ihm her, Sand in den Sandalen, seinen breiten Rücken fest im Blick. Sie schickte ein kleines Stoßgebet in den Himmel über dem Meer: Bitte lass es diesmal den Richtigen sein. Ich habe das Alleinsein so satt.
„Na los, komm her.“
Er drehte sich um, lächelte, breitete die Arme aus, und sie ließ sich hineinziehen und ausgiebig küssen. Dieser Ausflug war seine Idee gewesen. Ein romantisches Wochenende am Meer, in einem kleinen lauschigen Hotel. Der passende Ort für ihr erstes Mal. Anja konnte ihr Glück kaum fassen.
„An der Strandpromenade ist eine nette kleine Bar, da gehen wir was trinken“, sagte Tim.
Die Wellen hatten Muscheln an den Strand geschwemmt, blankgeputzte Kiesel und dunkle Algen.
„Guck mal was ich gefunden habe“, sagte Anja aufgeregt.
„Einen Stein mit einem Loch drin, na und?“
„Das ist ein Hühnergott.“
„Häh?“
„Man hat diese Steine früher an die Tür des Hühnerstalls gehängt. Sie sollten den Fuchs abhalten.“
Tim lachte abfällig.
„Reiner Aberglaube!“
Der Stein lag warm und rund in Anjas Hand.
„Die Cocktails warten, Süße.“
Anja strich über den Stein. Einer plötzlichen Eingebung folgend hob sie ihn ans Augen und blickte durch das Loch hindurch. Da war das Meer, da der Strand, und da lief … ein Fuchs. Anja nahm den Stein weg. Da war nur Tim, der über den Strand ging. Anja sah wieder durch das Loch. Da war wieder der Fuchs. Er drehte sich um und rief:
„Komm schon!“
Er hatte spitze weiße Zähne und das falsche Grinsen eines geborenen Räubers. Und Anja wusste, tief in ihrem Herzen, dass er das die ganze Zeit über schon gewesen war. Wenn er sein Hühnchen erst mal erfolgreich gerupft hatte, würde er ihre Anrufe nicht beantworten, ihre SMSe ignorieren und wahrscheinlich sogar sein Profil bei Herzenspartner.de löschen.
Wolken zogen auf. Ein kalter Wind vom Meer ließ Anja frösteln. Wohin war die Sonne nur so schnell verschwunden?
Sie schloss ihre rechte Hand um den warmen Stein und folgte Tim. Die Bar war mit Fischernetzen, Laternen und Ankern dekoriert. Auf kleinen Bistrotischen brannten Kerzen, im Hintergrund sang Rod Stewart ‘I am sailing’. Tim bestellte für beide ‘Sex on the Beach’ und unterhielt Anja mit seinen letzten Erfolgen in der Firma.
„Muss mal eben die Schlange in die Keramik halten“, sagte er nach dem zweiten Cocktail.
Anja hob den Stein hoch und blickte durch das Loch hindurch Tim nach: dem Fuchs, der zur Toilette schnürte. Dann betrachtete sie die anderen Gäste. Die Frauen sahen ganz normal aus. Deren Männer nicht. Anja zählte zwei Wölfe, einen Kojoten, einen Büffel und drei Schweine. An der Theke saß ein einsamer Bär. Anja nahm den Stein wieder weg. Der Bär war ein großer, breitschultriger Mann mit dunklen Haaren. Er hatte ein Bier vor sich zu stehen und las in einem Buch. Anja versuchte, den Titel zu erkennen. Plötzlich sah er auf. Große, dunkelbraune Augen, ein scheues Lächeln in ihre Richtung. Warum nur landete sie immer bei den falschen Kerlen?
Tim kam zurück.
Der Hühnergott lag warm in Anjas Hand. Er kribbelte ein bisschen. Und plötzlich hatte sie eine ganz verrückte Idee.
„Na Süße, wollen wir in die Heia gehen?“, fragte Tim mit anzüglichem Grinsen.
Anja gackerte wie ein Huhn.
„Hast du zu viel getrunken?“
Anja gackerte erneut. Die ersten Barbesucher sahen sich verstohlen nach ihr um.
„Hör mal, Süße, was soll das?“
Anja gackerte hingebungsvoll, als wollte sie ein Ei legen.
„Das ist mir zu blöd!“
Tim stand auf, schmiss ein paar Scheine auf den Tisch.
„Sieh zu, wie du nach Hause kommst.“
Er knallte hinter sich die Tür zu. Anja seufzte erleichtert. Und begegnete erneut dem Blick des Bären. Dieser lachte und hob einen Daumen: Gut gemacht!
Anja lächelte zurück und ging zu ihm hinüber.
„Darf ich fragen, was Sie da lesen?“

 

 

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