Dämon Glubschfrosch
Es war einmal ein junges Mädchen, dass von einem Dämon geplagt wurde. Manchmal wachte sie morgens auf und da hockte er auf ihrer Brust, schwer und bräsig, eine Mischung aus Glubschfrosch und Spinnenbein, ein hämisch grinsendes, schleimiges Ding, das ihr den Atem schwer und das Herz vor Furcht ganz winzig klein machte. Das schlimmste war: Jule konnte sich nicht dagegen wehren. Sie lag wie erstarrt, in ihrem Hirn schrie alles laut: renn, renn, renn. Doch ihr Körper ignorierte die Hilferufe des Gehirns. In einer seltsamen Stille gefangen, war es ihr schlicht unmöglich, auch nur den kleinen Zeh zu krümmen.
„Kind, was soll nur aus dir werden“, seufzte ihre Mutter. „Du hast zu viel Fantasie. Es ist gar nicht gut, die Nase ständig in ein Buch zu stecken. Geh raus, an die frische Luft. Und lies nicht so viel!“
Jule wusste, dass es nicht am Lesen lag.
Die Doktoren in den weißen Kitteln, zu denen ihre Mutter sie schleppte, warfen mit klugen Begriffen um sich: Schlafparalyse, Parasomnie in der hypnopompen Form. Das Urteil lautete: nichts Besonderes. Die natürliche Lähmung des Körpers, die nachts verhindert, dass eins sich im Traum bewegt, dauert in diesen Fällen beim Aufwachen einfach noch ein wenig an. Ach ja, und das kann auch von Halluzinationen begleitet werden. Unangenehm, ja, aber völlig ungefährlich. Die Schlafstarre löse sich von ganz alleine wieder. Und ansonsten gab es ja immer noch Pillen.
In einem hatten die Doktoren recht: Die Starre löste sich von alleine. Aber dass Jule in der Zwischenzeit vom glibberigen Speichel einer ekligen Glotzkröte betropft wurde und kaum noch Luft bekam, das interessierte sie nicht.
Unangenehm, aber ungefährlich? Es war die Hölle.
Jule wusste, dass die Pillen nicht helfen würden. Und das taten sie auch nicht.
In den Mangas, die Jule las, war die Rede von kanashibari, was so viel wie immer noch festgebunden bedeutete. Und so fühlte sie sich auch.
Es war eben ein Dämon, und er fand gefallen daran, sie zu plagen.
Jule hatte sogar (wie in den Mangas empfohlen), eine Packung Erbsen unter ihr Bett geschüttet. Der Dämon sollte angeblich nicht umhin können, sie alle zu zählen (und Jule in Ruhe zu lassen). Aber Glubschfrosch machte sich wohl nichts aus Erbsen.
Und Jule wünschte sich so sehr, morgens ohne Angst aufzuwachen.
Als sie nicht mehr weiter wusste, verliess sie die Stadt und ging in den Wald. Warum der Wald? Weil er nicht die Stadt war. Weil er das letzte bißchen wildes Grün und Freiheit darstellte. Und weil Jule die Studio-Ghibli-Filme liebte.
Totoro und Spirited Away und Kikis kleiner Lieferservice. Verzweifelt, wie Jule war (und ja, sie wusste, wie albern es klang), heimlich hoffte sie, einem Totoro zu begegnen, einem hilfreichen Waldgeist. Oder irgendetwas oder jemandem, der ihr helfen konnte, den Dämon loszuwerden.
Sie fuhr mit dem Bus bis zur Endstation, schulterte ihren kleinen Rucksack und tauchte in das grüne Dämmerlicht. Schon nach wenigen Schritten musste Jule ihre aufkommende Enttäuschung hinunterschlucken. Es war ein gezähmter, gepflegter Wald, mit breiten Wanderpfaden, Bänken, Mülleimern und Aussichtspunkten. Falls hier kleine Baumgeister lebten, hatten sie sich gut versteckt. Und für einen Katzenbus gab es nirgends Platz.
Aber Jule war hartnäckig. Während die Sonne ihren Tageslauf absolvierte, stapfte Jule tiefer und tiefer in den Wald hinein. Die Wanderwege wurden schmaler, wurden zu Trampelpfaden, die Bäume rückten dichter zusammen, Farne und Ranken drängten sich von allen Seiten heran. Im Dämmerlicht des späten Nachmittags wurde alles dunkelgrün und Jule fühlte sich wie auf dem Grund eines großen, überwachsenen Aquariums. Aufmerksam hielt sie Ausschau nach Totoros und Baumgeistern. Manchmal knackten Zweige oder ein raunendes Rascheln lief durch die Blätter über ihr. Jule zuckte jedes Mal zusammen. Aber dann war es nur ein neugieriges Eichhörnchen oder ein vorlauter Vogel. Langsam wurde es dunkel und der Pfad war schon lange kein Pfad mehr. Jule arbeitete sich durch Farne und Büsche voran, ihre Unterarme voller Kratzer. In ihrem Rucksack steckten eine kleine Schlafrolle, eine Taschenlampe, eine Wasserflasche und ein paar Müsliriegel. Kurz, sie war auf alles vorbereitet. Auch wenn ihr der Gedanke daran, eine Nacht im Wald zu verbringen, nicht besonders behagte. Aber Totoro war besonders nachts aktiv, und die Baumgeister sicher ebenfalls.
Jule stapfte vorwärts.
Die Sonne war eben untergegangen, da erreichte sie eine kleine Lichtung im Wald. Ein Bächlein plätscherte quer hindurch und auf der anderen Seite stand eine kleine, moosbedeckte Holzhütte. Auf den Stufen vor der Hütte saß eine alte Frau und rauchte Pfeife. Sie sah nicht aus wie eine der Ghibli-Hexen, aber eins konnte nie wissen.
„Guten Abend“, grüßte Jule freundlich und mit nur ganz leicht zitternder Stimme.
Die alte Frau nahm ihre Pfeife aus dem Mund, blinzelte zu Jule hinüber und musterte diese von oben bis unten. Dann nickte sie kurz und rauchte weiter.
Jule nahm das Nicken als Einladung. Sie hüpfte über den Bach und näherte sich ihr langsam. Die Frau wies mit ihrer Pfeife auf einen glatten kleinen Felsblock ihr gegenüber. Jule setzte sich, nahm ihren Rucksack ab und kramte darin herum.
„Müsliriegel?“
Eine braunfleckige Hand nahm das Angebotene an. Der Riegel wurde inspiziert und nach einem kurzen Nicken verschwand er in der Tasche ihrer dunklen Strickjacke.
Jule kaute, trank Wasser und sah sich um. Es war eine friedliche kleine Lichtung, über die sich langsam die nächtliche Dunkelheit schob. Von oben funkelten Sterne auf sie herab.
„Sie haben nicht zufällig ein paar Baumgeister gesehen, oder einen Totoro?“
Die alte Frau schüttelte den Kopf. Ihre klugen Augen betrachteten Jule interessiert und schon erzählte diese ihr die ganze Geschichte.
Darüber wurde die Pfeife kalt und der Mond zog auf.
„Haben Sie vielleicht eine Idee, wie ich den Dämon loswerden könnte?“
Die alte Frau schüttelte den Kopf. Im Dunkeln konnte Jule ihr Gesicht nicht mehr gut erkennen, nur die Augen blitzen leicht grünlich.
Vor Enttäuschung verdrückte Jule ein paar Tränen. Kein Totoro, keine Baumgeister, keine Hilfe. Und die alte Frau war auch keine Hexe, sie lebte eben einfach nur im Wald. Als sie ausgeweint hatte, musste Jule gähnen. Die alte Frau stand auf und half ihr, die Schlafrolle auf dem weichen Moosboden auszubreiten. Sie legte Jule ihre kühle Hand auf die Stirn und eine große Ruhe überkam das Mädchen. Jule schlief tief und raumlos.
Als sie am frühen Morgen erwachte, hockte der Glubschfrosch schon auf ihrer Brust. Aber etwas war anders. Anstatt sich voll und ganz auf sie zu konzentrieren, glubschte er interessiert hin und her, musterte den Wald und die alte Frau, die auf den Stufen zu ihrer Hütte hockte und rauchte. Hatte sie dort etwa die ganze Nacht gesessen und Jules Schlaf bewacht?
Die alte Frau nahm ihre Pfeife aus dem Mund und beschrieb einen weiten Bogen. Als wolle sie Glubschfrosch den Wald zeigen und ihm ein neues Revier anbieten. Eines, das so viel größer und interessanter war, als Jules kleines Zimmer und ihr kleines Bett.
Und Glubschfrosch schien interessiert. Er sah Jule fragend an. Und die nahm all ihre Kraft zusammen und schaffte es endlich, sich zu bewegen. Jule nickte. Der Glubschfrosch grinste, sabberte ihr einen glibberigen Kuss auf die Wange und machte einen großen Satz.
Ein Stein fiel von Jules Brust. Sie holte tief Luft, setzte sich auf. Glubschfrosch hatte bereits den Bach übersprungen und sich noch einmal umgedreht.
Die alte Frau winkte. Jule winkte mit. Der Glubschfrosch drehte sich um und verschwand im Wald.
„Danke“, sagte Jule.
Die alte Frau winkte ab.„Ich habe Kaffee gekocht.“
„Und ich habe noch zwei Müsliriegel“, sagte Jule.
So kam es, dass Jule ihren Dämon loswurde. Die alte Frau hat sie dann noch öfter besucht. Aber Glubschfrosch tauchte nie wieder auf. Und das war gut so.
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