Bella Ella

Bella Ella

Es war der letzte Tag im Oktober. Halloween. Die kühle Luft roch nach modrigem Laub und dem Rauch von Herbstfeuern. Alle Kinder freuten sich auf den Abend, wenn sie sich verkleiden und losziehen konnten. Nur Ella nicht. Ella hatte beschlossen, von Zuhause fortzugehen.

„Du bist ein Mädchen, keine Katze“, hatte Papa gebrüllt.

„Was hast du nur mit deinem neuen Kleid gemacht?“, hatte Mutter geschimpft.

Ella war auf einen Straßenbaum geklettert. Sie wollte dem alten Doktor Meyer auf die glänzende Glatze spucken. Der stank immer nach Schweiß und Mottenkugeln und er versuchte, sie anzugrabbeln, wenn gerade keiner hinsah. Manchmal schaffte er es, aber meistens war Ella flinker.

Die Eltern mochten den alten Doktor. Er gehörte zu den einflussreichen Honoratioren der Stadt und sie sagten, dass sie sich glücklich schätzten, wenn er ihre Einladungen zum Tee annahm. Von Ella wurde dann erwartet, dass sie ein Kleid trug und Kekse servierte. Ella wollte lieber in die Bibliothek gehen und sich Bücher über Abenteurerinnen ausleihen. Zum Beispiel Isabelle Eberhardt, die als Frau alleine durch die Wüste gereist war.

Am Ende des Gartens gab es einen alten Baum mit vielen verwinkelten Ästen. Dort konnte man sich ganz gemütlich in eine Astgabel kuscheln und lesen. Ella liebte Abenteuer. Ihre Eltern liebten hübsche, ruhige Mädchen, die nicht auffielen.

Sie hatte ihnen schon vor einiger Zeit gesagt, dass der alte Mann sie gerne anfasste. Da hatte sie eine Ohrfeige von Mutter bekommen und Hausarrest vom Vater. Brave Mädchen lügen nicht.

Also war sie heute auf den Baum geklettert und hatte sich prompt das neue Kleid zerrissen. Zur Strafe durfte sie nicht hinaus, um Süßigkeiten einzusammeln. Dabei lag ihr Hexenkostüm schon bereit. Ella wischte sich die Tränen ab. Ihr Entschluss stand fest. Sie würde sich neue Eltern suchen. Jemand anderes, der auf sie aufpasste so lange, bis sie groß genug war, um alleine leben zu dürfen.

Ella zog ihr Hexenkostüm an und kletterte aus dem Fenster. Der Abend gehörte ihr. Zusammen mit den anderen Kindern zog sie durch die Straßen und sammelte Süßigkeiten ein. Dabei sah sie sich nach neuen Eltern um.

Aus der Bäckerei duftete es nach Zimt, Nelken und Vanille. Wenn sie einen Bäcker als Vater hätte, würde sie immer frische Zimtschnecken bekommen.

Die Bibliothek trieb durch den stürmischen Oktoberabend wie ein Schiff über das nächtliche Meer. Aus ihren Fenstern schien warmes Licht. Wenn sie eine Bibliothekarin als Mutter hätte, würde diese ihr jeden Abend eine Geschichte vorlesen.

Vom Jahrmarkt auf der alten Wiese ertönten Leierkastenklänge. Ein köstlicher Duft nach Zuckerwatte und kandierten Äpfeln lag in der Luft. Wenn ihre Eltern eine Bude dort hätten, würde sie im ganzen Land herumziehen und alles sehen können.

Ella, den Bauch voller Schokolade und die Füße schwer, ließ sich vom Herbstwind vorwärts schieben. Sie tauchte ein in das bunte Funkeln und Glühen des Jahrmarktes. Vorbei an Mephistopheles, dem Feuerfresser, dem illustrierten Mann, dem Spiegellabyrinth und der Dämonen-Guillotine. Keiner der Budenbesitzer sah aus, als würde er oder sie eine Tochter suchen. Ella war am Ende angelangt. Es war kalt, ihr taten die Füße weh und es wurde spät. War es nicht schon kurz vor Mitternacht? Ella rieb sich die Augen. Jetzt nur nicht aufgeben. Hatte die Abenteurerin Isabelle Eberhardt beim Durchqueren der Wüste aufgegeben? Nein! Ella wollte sich gerade umdrehen und zurückgehen, als jemand sie ansprach.

„Guten Abend.“

Der junge Mann hatte mitternachtsblaue Augen. Seine Haare waren rabenflügelschwarz, sein Mantel dunkelsamtviolett. Er war zu jung, um ein Vater zu sein. Und er tickte. Ella hörte es ganz deutlich.

„Guten Abend“, sagte sie mutig.

„Ganz alleine hier?“

Ella war nicht dumm. „Nein, meine Eltern sind da drüben.“

Der junge Mann lächelte, nickte, und dann öffnete er die rechte Seite seines Mantels. Vor der staunenden Ella erschienen Uhren. Große, kleine, matte, funkelnde. Taschenuhren, Armbanduhren, Eieruhren. Das erklärte das Ticken.

„Wenn du das Besondere suchst, bist du bei mir richtig. Gestatten: Tim Tempus.“

Er verbeugte sich.

„Ella.“ Sie knickste, ihre Eltern hatten sie gut erzogen. „Aber ich brauche keine Uhr.“

„Nein? Vielleicht keine normale. Aber eine von meinen. Eine, die die Zeit vorstellt. Möchtest du älter sein? Möchtest du selber bestimmen, wann du ins Bett gehst und das Eiskreme ein ausreichendes Abendessen ist?“

Jetzt erst bemerkte sie, dass die Uhrzeiger sich unterschiedlich verhielten. Einige waren schneller, andere langsamer. Und viele liefen sogar rückwärts.

„Ich könnte älter werden?“

„Auf einen Glockenschlag“, bestätigte Tim.

Das würde alle ihre Probleme lösen. Endlich erwachsen, endlich keine Vorschriften und kein Gegrabbel mehr!

„Aber ich habe kein Geld“, fiel ihr ein.

Sie hätte das Weglaufen besser vorbereiten müssen.

„Bella Ella“, sagte Tim leise. „Das macht gar nichts.“

Er kam näher, beugte sich über sie. In seinen Augen lagen Ewigkeiten. Ella streckte langsam ihre rechte Hand aus. Ganz vorne an seinem Mantel steckte eine kleine, goldene Taschenuhr, die ihr zuzublinzeln schien. Von nirgendwoher fegte plötzlich ein warmer Wind durch ihre Haare. Es roch trocken, nach Staub, Sand und Wüste. Ella musste Niesen. Der junge Mann wich zurück und starrte jemanden hinter ihr an.

„Hallo, Tempus. Schon wieder die alte Leier?“, erkundigte sich eine weiche Stimme.

Er schlug hastig seinen Mantel wieder zu. „Was geht es dich an?“

Ella drehte sich um. Eine Frau im schwarzen Umhang stand hinter ihr und blinzelte ihr zu. Eine nach Gewürzen duftende Pfeife hing aus ihrem rechten Mundwinkel.

„Gar nichts.“ Die Frau klopfte ihre Pfeife aus und begann, sie neu zu füllen. „An deiner Stelle, Mädchen, würde ich mir das noch mal überlegen.“

Tempus grummelte böse.

„Der Uhrmacher saugt deine Lebenskraft auf und treibt damit seine Uhren an. Die verkauft er für viel Geld an Menschen, die Angst vor dem Älterwerden haben. Wenn sie diese tragen, verlangsamt das ihre eigene Lebensuhr. Sie altern nicht so schnell. Bis die Kraft der Uhr verbraucht ist.“

Ella zog schnell ihre Hand zurück.

„Pest und Verderben über dich, Hexe!“, sagte der Uhrmacher, spuckte aus, drehte sich um und verschwand.

Die Frau zündete ihre Pfeife an, paffte ein paar mal und musterte Ella.

„Bist du wirklich eine Hexe?“, platzte Ella heraus.

„Und du?“

Ella zupfte an ihrem Kostüm. „Ich wär gerne eine. Hexen lassen sich von niemandem was sagen und bestimmen selber über ihr Leben.“

Die Frau lachte. „Das mag sein. Aber das Hexenhandwerk will gelernt sein. Das geht nicht so von heute auf morgen.“

„Das macht nichts, ich lerne gerne. Und ich lese viel.“

„Du magst Bücher?“

Ella nickte eifrig.

„Das trifft sich gut. Ich suche schon lange einen Lehrling.“

„Oh, bitte, darf ich?“

Die Frau betrachtete Ella nachdenklich. „Was ist mit deinen Eltern, Kind?“

„Die wollen nicht mich. Die wollen eine brave Tochter.“

Die Frau lächelte. „So so.“ Sie paffte heftig an ihrer Pfeife. Dampfwölkchen entstanden, wuchsen, waberten wie ein Nebel, hüllten sie immer weiter ein. „Bist du sicher?“, fragte sie und ihre Stimme klang, als käme sie von weither. Sie würde doch nicht ohne Ella gehen?

„Ja!“, rief Ella entschlossen. Nie in ihrem Leben war sie sich sicherer gewesen. Die Frau streckte ihre linke Hand aus. Ella griff zu.

Herbstnebel stieg auf, verhüllte beide. Ein warmer Windhauch zerstreute ihn. Zurück blieb ein Wirbel bunter Blätter und der Geruch nach Zimt und Staub.

 

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Vier Autor*innen, ein Thema, vier Kurzgeschichten. Jeden Montag eine, reihum auf unseren Blogs kostenlos zu lesen, damit eure Woche einen wahrhaft phantastischen Start hat: Das ist #phantastischermontag.

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Für C.A. Raabe ist es ein Kinderspiel.

Bei Maike Stein fliegen die Krähenschwestern.

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