Untergrund
Alison hastete die Treppen zur U-Bahn hinunter. Der Wind blies ihr bunte Blätter hinterher, die unter ihren Absätzen raschelten. Alison zog ihren Schal fester und versteckte die Hände in den Ärmeln ihrer überlangen Strickjacke. Sie war spät dran heute Morgen. Der Wecker hatte nicht geklingelt, obwohl Alison sich absolut sicher war, ihn eingestellt zu haben. Sechs Uhr, so wie an jedem Wochentag.
Aufgewacht war sie erst kurz vor sieben und das hieß, sie hatte noch nicht einmal Zeit gehabt für eine Tasse Tee. Dabei hätte sie die dringend gebraucht. Alison hatte schlecht geschlafen und wirres Zeug geträumt, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte. Zurückgeblieben war ein Gefühl von Trauer und Hoffnungslosigkeit. Traumschatten hafteten ihr an, als wäre sie durch ein Spinnennetz gelaufen und konnte nun die klebrigen Fäden nicht mehr abschütteln.
Auf der Zwischenebene gab es einen Zeitungsladen, einen Backshop und einen Blumenstand. In den muffigen Geruch nach ungewaschenen Menschen mischte sich Kaffeeduft und Druckerschwärze. Rosen setzten tapfer dunkelrote Akzente im Bürograu der sich blicklos vorbei schiebenden Angestellten.
Eine leicht asthmatisch klingende Rolltreppe beförderte Alison hinab zu den Gleisen. Wenn der Zug jetzt gleich kam, konnte sie es noch pünktlich ins Büro schaffen. Sie ging bis zur Bahnsteigmitte, damit sie beim Umsteigen keine kostbare Zeit verlor.
Die Anzeige verkündete eine Zugankunft in drei Minuten.
Der Chef mochte es nicht, wenn man zu spät kam. Er hielt es für einen Mangel an Disziplin und Ehrgeiz. Zwei karrierefördernde Eigenschaften, die, seiner Meinung nach, Frauen völlig abgingen. Dabei war der Chef kein Fossil, sondern ein dynamischer junger Mann mit einem trendigen Bärtchen, der gerne mit Schlagworten um sich warf. Schnellere Digitalisierung, marktwirtschaftlicher Klimaschutz, selbstbestimmt und eigenverantwortlich leben, das waren seine Favoriten. Dass Alison ihm immer seinen bevorzugten Speciality-Coffee machen und Croissants besorgen sollte, war weder selbstbestimmt noch eigenverantwortlich, aber für ihn völlig ok. Dass er die Präsentationen, die sie für ihn erstellte, als seine eigenen ausgab, ebenfalls.
Noch zwei Minuten.
Alison war selber schuld. Warum blieb sie in so einem Job? Weil er gut bezahlt wurde? Weil sie allein lebte und für sich selber sorgen musste? Weil sie in ihrem Alter so schnell nichts anderes mehr bekommen würde? Oder weil sie manchmal noch die Stimme ihrer Mutter in den Ohren hatte, der ihr riet, lieber schnell zu heiraten, denn das wäre das Beste? Frauen wären sowieso nicht für die harte Welt da draußen gemacht. Hauptsache, versorgt sein.
Vielleicht auch, weil es zwar eine Misere war, aber zumindest eine vertraute, alte, gut eingefahrene. Alison wusste, was sie zu erwarten hatte. Wenn sie hingegen etwas vollkommen Neues begann, dann wäre gar nichts mehr sicher.
Noch eine Minute.
Auf einer bunten Werbetafel an der Tunnelwand gegenüber lockte ein neu eröffnetes Einkaufszentrum mit dem Slogan Willkommen im Shopping-Wunderland. Neonlichter flackerten. Alison fixierte die dunkle Tunnelöffnung, als könnte sie den Zug herbei starren. Etwas bewegte sich … na endlich. Doch aus dem Dunkel tauchte kein gelber Zug auf, sondern etwas Weißes, Pelziges. Alison rieb sich die Augen, kniff sich in den Oberarm.
Ein weißes Riesenkaninchen schob sich aus dem Tunnel heraus. Es füllte ihn fast vollständig aus, seine langen Ohren lagen friedlich am Kopf, seine Nase zuckte neugierig. Das Kaninchen saß auf einer großen Draisine, die es mit den Vorderpfoten ruhig und konzentriert vorwärtsbewegte. Sein Fell glänzte gepflegt und seine dunklen Knopfaugen waren stetig geradeaus gerichtet.
Alison blickte sich um. Der Bahnsteig war voller Menschen, aber niemand schenkte dem Phänomen die geringste Aufmerksamkeit. Die Köpfe der meisten Wartenden waren über ihre Smartphones gebeugt, ihre Gesichter schimmerten leicht bläulich. Manche, die auf den Bänken saßen, hatten ihre Augen ganz geschlossen. Und zwei lasen Zeitung.
Das Kaninchen rollte vorbei, langsam, ruhig, majestätisch, wie ein großer weißer Ozeandampfer.
„Guck mal, Mama!“, sagte eine Stimme neben Alison.
Ein kleines Mädchen zupfte an der Hand einer jungen Frau, die eifrig auf ihrem Smartphone herumwischte.
„Ja, Schatz, gleich“, sagte diese, ohne aufzublicken.
Das Mädchen sah Alison an. Dann zeigte die Kleine auf das Kaninchen und lächelte. Alison seufzte erleichtert und nickte lächelnd zurück.
Ein Geburtstagsgeschenk fiel ihr ein, ein Buch mit Illustrationen, das sie so lange gelesen und geliebt hatte, bis es völlig zerfleddert war. Alison wurde so plötzlich und vollständig in ihre Kindheitserinnerungen katapultiert, dass ihr beinahe die Luft wegblieb. Sie tauchte ein in eine Welt voller Wunder und Abenteuer. Alles war möglich, alles war neu, bunt und spannend.
Ein Kaninchen, das zu spät kam. Eine verrückte Teeparty, eine bekiffte Raupe, eine Katze, die unsichtbar werden konnte. Eine böse Königin und weiße Rosen, die rot angemalt wurden. Man spielte Krocket mit Flamingos und die Igel liefen davon. Ein Packen Spielkarten.
Ein Traum.
Das Kaninchen verschwand im Tunnel am anderen Ende. Das Letzte, was Alison sah, war sein zuckendes Puschelschwänzchen.
„Was gibts denn, Schatz?“
Die junge Frau hatte endlich aufgeblickt. Ein warmer Lufthauch strich über den Bahnsteig, von rechts ertönte ein rumpelndes Grollen.
„Der Zug kommt“, sagte das Mädchen.
Endlich, dachte Alison. Aber sie fühlte es nicht mehr. Der nervöse Drang, die Angst, zu spät zu kommen, hatten sich vollständig verflüchtigt. Sie betrachtete die gelben Wagen, die vor ihr einfuhren und langsam zum Stillstand kamen. Türen öffneten sich, Menschen strömten heraus und sofort drängelten sich die Neueinsteiger hinein. Alison sollte einsteigen, jetzt, sofort. Aber eine ganz ungewohnte Trägheit hatte sich ihrer bemächtigt, die das erfolgreich verhinderte. Ihre Füße wollten sich partout nicht bewegen.
„Vorsicht an der Bahnsteigkante.“
Das Signal ertönt. Gleich würden sich die Türen schließen, gleich …
Alison blieb stehen.
Das Mädchen und ihre Mutter hatten sich drinnen bereits hingesetzt. Die Kleine hockte auf dem Sitz und guckte nach draußen, zu Alison. Die Türen schlossen sich mit einem lauten, sehr endgültig klingenden Rums. Das Mädchen lächelte und winkte Alison zu. Alison winkte zurück. Der Zug nahm Fahrt auf und rauschte nach links in den Tunnel hinein.
Was nun?
Plötzlich gehörte der Tag ihr. Und eigentlich nicht nur der Tag, sondern ihr ganzes Leben! Alison wurde ein wenig schwindlig bei dem Gedanken.
Was vielleicht auch nur daran lag, dass sie nicht hatte frühstücken können. Oben, gleich neben dem U-Bahn-Eingang gab es ein nettes kleines Café. Vorher würde sie sich eine von den roten Rosen kaufen.
Und dann … nun, das würde sie dann schon sehen.
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Vier Autor*innen, ein Thema, vier Kurzgeschichten. Jeden Montag eine, reihum auf unseren Blogs kostenlos zu lesen, damit eure Woche einen wahrhaft phantastischen Start hat: Das ist #phantastischermontag.
In 2021 lassen wir uns von unseren Lieblingssongs zu Geschichten inspirieren. Im Oktober ist es Alison Hell von Annihilator.
Bei C.A. Raaven hüpft ein Black Rabbit durch die Gegend.
Maike Stein fragt sich Vielleicht.
Und bei Alexa Pukall ist es Dunkel und Still.
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