Shit happens

Shit happens

Der Mann, der Albträume kauft, sieht aus wie ein Zahnarzt, denkt Jack. Das liegt nicht nur daran, dass Barlow einen weißen Kittel trägt, sondern auch an der Umgebung. Ein steriles Büro in einem sterilen Hochhauskomplex, alles in Stahl, Beton und Glas gehalten. Weiße Wände, schwarze Möbel, ein Hauch von Desinfektionsmittel und Leder in der Luft.

Jack fühlt sich fehl am Platz in seinen Jeans und der alten Biker-Jacke.

Draußen pladdert Novemberregen gegen die Scheiben, drinnen läuft leise Jazzmusik.

„Bitte, nehmen Sie Platz.“

Jack versinkt beinahe in einem dunklen Ledersessel. Barlow hat akkurat geschnittenes, strohblondes Haar und eisblaue Augen. Er ist irgendwas zwischen dreißig und fünfzig. Seine helle Haut liegt so eng über den Knochen, dass man den Schädel darunter erahnen kann.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

Jack hätte weiß Gott einen Drink nötig. Am besten Whisky, straight. Ein Stückchen Wand schiebt sich wie von Zauberhand beiseite, eine süße Biene tritt ein, der der weiße Kittel hervorragend steht.

„Kaffee, Tee?“ Sie trägt ein Tablett mit Tassen und Kännchen.

„Kaffee bitte. Schwarz.“ Jack ist erleichtert und zugleich ein wenig enttäuscht. Aber es ist besser so.

Der bitterschokoladige Kaffeeduft steigt verlockend in Jacks Nase. Kein Whisky, aber gar nicht schlecht.

Die süße Kittel-Biene verschwindet wieder. Praktisch, denkt Jack. So eine hätte ich auch gerne Zuhause.

„Wie genau sind Sie an meine Adresse gekommen?“ Die blauen Augen fixieren Jack.

Er stellt die Kaffeetasse ab und holt eine leicht zerknitterte schwarz-weiße Visitenkarte aus seiner Jackentasche.

„Die hat mir so ein Typ neulich Nacht im Club nach einer Unterhaltung gegeben.“

Sie waren betrunken gewesen und Jack hatte das Ganze erst für einen Witz gehalten. Barlow nimmt die Karte mit langen, spitzen Fingern entgegen, dreht und wendet sie ein paar mal, nickt dann und lässt sie in einer Kitteltasche verschwinden. Jack nimmt noch einen Schluck Kaffee, der läuft wie ein Lebenselixier samtig weich seine Kehle runter. Mann, starkes Zeug. Er entspannt sich ein wenig.

„Stimmt es also, Sie kaufen wirklich Albträume?“

Jack hat es erst nicht glauben wollen. So ein Blödsinn. Aber gegen das, was ihn Nacht für Nacht heimsuchte, hatte bisher nichts geholfen. Weder Tabletten noch trinken oder gar beten (er war sowieso nicht besonders religiös). So langsam machte es ihn fertig. Und hier war einer, der ihn davon befreien und dafür auch noch Geld geben wollte? Zu schön, um wahr zu sein.

Barlow nickte gelassen. „Wir extrahieren Ihren Albtraum und verwandeln ihn in etwas leicht konsumierbares.“

„Und dann?“

„Verkaufen wir ihn weiter an den Meistbietenden. Anonym, selbstverständlich. Niemand wird jemals den Albtraum zu seinem Ursprung zurückverfolgen können, dafür garantieren wir. Das ist die Grundlage unseres Geschäfts.“

Das wäre ja auch noch schöner, denkt Jack. „Aber wer kauft anderer Leute Albträume?“

„Wir haben viele Interessenten. Manche Leute konsumieren sie wie Horrorfilme. Andere lassen sich davon inspirieren, Künstler, Schriftsteller oder Game Designer zum Beispiel.“

Na gut, das leuchtet Jack ein. Aber trotzdem, die müssen schon einen starken Magen haben. Wie von Ferne hört er Bremsen quietschen, spürt den dumpfen Aufprall wie am eigenen Leib, sieht am Straßenrand das kleine pinkfarbene Kinderfahrrad liegen, der hintere Reifen dreht sich noch. Sieht eine sonntäglich verlassene Straße, spürt sein Herz in der Kehle, seine schweißnassen Hände am Steuer, sieht sich aufs Gas treten. Und nein, er kann im Rückspiegel nichts auf der Straße liegen sehen, keinen kleinen Körper. Das ist nur eine Sonnenspiegelung, nichts weiter.

Wenn er nicht zu schnell gefahren wäre, wenn er nicht gerade am Radio gedreht hätte, wenn er nicht beim Frühschoppen gewesen wäre, wenn er nicht all das Bier getrunken hätte und die Schnäpse dazu, wenn er nicht …

Jede gottverdammte Nacht.

Jack reibt sich die feuchten Hände. Barlow beobachtet ihn aufmerksam, so wie ein Insektenforscher eine interessante, aber abstoßende Spezies.

Wochen sind seither vergangen, Monate. Keiner hat ihn gesehen. Nichts ist ihm passiert. Es war ein Unfall. Nichts weiter als ein blöder Zufall. Shit happens. Jack könnte ganz normal weiter leben, wenn da nicht dieser Albtraum wäre.

Jack räuspert sich. „Darf ich fragen … das Extrahieren … wie genau machen Sie es?“

„Wir bohren ein kleines Loch seitlich in Ihren Schädel und ich sauge den Albtraum mit einem Strohhalm aus Ihrem Hirn heraus. Keine Sorge, natürlich werden wir Sie vorher örtlich betäuben.“

Der Kaffee rumort böse in Jacks Magen.

Barlow verzieht die dünnen Lippen zu einem Lächeln, das seine Augen nicht ganz erreicht. „Das war ein Witz.“

„Natürlich.“ Kein Kaffee mehr für Jack.

„Die moderne Wissenschaft hat unglaubliche Fortschritte gemacht“, sagt Barlow ausdruckslos. „Der genaue Prozess ist allerdings unser kleines Betriebsgeheimnis. Sie werden nichts spüren und es wird keine Narben geben, auch das garantieren wir.“

Selbst wenn das mit dem Strohhalm stimmen sollte, Jack war mehr als bereit für jeden Scheiß. Hauptsache, endlich Ruhe nachts.

„Unterschreiben Sie hier.“

Ein kleiner Papierstapel war auf dem Schreibtisch erschienen, hinter dem Barlow sitzt.

„Mit einem Tröpfchen Blut?“, albert Jack herum.

Barlow hält ihm mit bitterernster Miene einen Kugelschreiber hin. „Nur in Ausnahmefällen.“

Das Letzte, woran Jack sich erinnert, ist seine etwas fahrige Unterschrift.

Dann: totaler Filmriss.

Er kommt auf einer Parkbank gegenüber dem Glasbetonungetüm wieder zu sich. Tastet sofort seinen Kopf ab: nichts. Kein Bohrloch, noch nicht mal ein Pflaster. Er hat auch keine Schmerzen. Sein Kopf fühlt sich leicht und frei an, der Druck, der seit Monaten auf ihm lastete, ist verschwunden. Aber, Moment mal, das Geld, haben die ihn etwa verarscht? Jack befühlt hastig seine Jackentaschen, in der linken knistert es. Er holt einen Briefumschlag, prall gefüllt mit Banknoten, heraus und zum ersten Mal seit dem Unfall lacht er wieder, aber richtig.

Die nächsten Tage und Nächte sind ein einziger Rausch. Jack hat Geld und er lässt sich ordentlich vollaufen. Keine Albträume mehr. Er weiß gar nicht, warum er sich eigentlich so aufgeregt hat. War doch alles bestens. Shit happens. Und es kam ja sogar noch was Gutes dabei raus. Für ihn jedenfalls.

Er fährt eines Nachts nach einem feuchtfröhlichen Abend mit den Jungs heim und freut sich aufs Bett, als ihm die Frau vors Auto läuft. Gut, da war vielleicht ne rote Ampel gewesen, aber um die Uhrzeit war doch sowieso kein Mensch mehr unterwegs! Und die kam einfach aus dem Nichts! Der Aufprall ist diesmal merklich stärker, etwas Dunkles läuft die Windschutzscheibe runter. Nicht schon wieder! Jack tritt aufs Gaspedal.

Seit dieser Nacht sieht er sie beide, die Frau und das kleine Mädchen. Morgens im Spiegel, tagsüber mal hier, mal da, immer aus den Augenwinkeln. Nachts in seinen Albträumen. Beide blutig, beide zerstört. Er wird von Gespensterzombies mit anklagenden Blicken und ausgestreckten Zeigefingern verfolgt. An Schlaf ist nicht mehr zu denken.

Jack will Barlow aufsuchen. Gespensterzombies müssten doch einiges wert sein, oder? Aber das Büro existiert nicht mehr. Dort sitzt jetzt ein Steuerberater, und der lässt den leicht hysterisch gewordenen Jack vom Sicherheitsdienst entfernen. Nein, er weiß nicht, wo der Vormieter hingezogen ist.

Der Typ, von dem Jack die Visitenkarte hatte, ist seitdem ebenfalls nicht mehr aufgetaucht.

Jack ist am Ende mit den Nerven. Er trinkt jetzt ununterbrochen, weil er es sonst nicht aushält. Nachschub holt er sich bei einem kleinen Laden um die Ecke. Vielleicht lag es daran, dass Jack total voll war und nicht aufgepasst hat, vielleicht daran, dass die Gespensterzombies ihn verfolgten. Vielleicht aber auch daran, dass der Porschefahrer betrunken war. Jedenfalls erwischt er Jack mit hundert Sachen beim Überqueren der Straße und sie müssen seine Überreste vom Asphalt kratzen.

Der Porschefahrer hat Albträume. Bis ihm ein freundlicher Typ eine schwarz-weiße Visitenkarte überreicht.

Shit happens.

 

 

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Drei Autor*innen, ein Thema, drei Kurzgeschichten. Jeden Montag eine, reihum auf unseren Blogs kostenlos zu lesen, damit eure Woche einen wahrhaft phantastischen Start hat: Das ist #phantastischermontag.  Im November lassen wir uns von Virginia Woolf inspirieren.

Die anderen Storys werde ich hier nach und nach verlinken:

Maike Stein: Frage und Antwort

C.A. Raaven: Hey Now

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