Seelenkekse
Es war der Tag von Allerseelen und Pips Tante, die Hexe Agatha, hatte ausgesprochen schlechte Laune. Der Teufel hatte sich zum Tee angekündigt, und Agatha war es noch nicht gelungen, genug Seelenkekse zu backen. Es fehlte ihr an der entscheidenden Zutat. Pip versuchte, ihr leise aus dem Weg zu gehen, aber das machte es nur noch schlimmer.
„Du sollst mit den Türen knallen, hab ich gesagt!“
Pip duckte sich, weil Agatha kurz davor schien, ihm selbst eine zu knallen.
„Ja, Tantchen.“
Sie schnaubte ungeduldig. „Hast du im Garten nach Kröten, Unken und Fröschen gesucht?“
„Ja, Tantchen.“
„Und?“
„Es waren keine da.“
„Unfähiger Tropf“, schimpfte Agatha. „Du Nichtsnutz von einem Neffen. Ein Natternfluch auf meine Schwester, dass sie einfach so hingeht und stirbt. Nun hab ich dich auf dem Hals. Geh noch mal raus, und wehe dir, du bringst mir diesmal wieder nichts!“
Draußen streckten die kahlen Bäume flehentlich ihre Äste in den kalten grauen Novemberhimmel, über den dunkle Wolkenfetzen jagten. Pip zog seinen blauen Schal fester um sich zusammen. Hinten, bei dem alten Brunnen, hockte eine kleine moosgrüne Kröte und blickte ihm mit großen Augen an. Pip sah sich schnell um und atmete erleichtert auf. Agatha war ihm nicht gefolgt. Er näherte sich vorsichtig der Kröte und bückte sich.
„Mama?“
Die Kröte blinzelte überrascht. Pip seufzte. Nein, das war sie wohl nicht. Genauso wenig wie alle die anderen vorher.
„Du solltest besser woanders hingehen, und zwar schnell. Sie ist hinter euch her.“
Die Kröte blies ihre Backen auf.
„Keinen Ton!“, sagte Pip erschrocken. „Wenn Tante Agatha das hört, dann fängt sie dich ein und bäckt Kekse aus dir.“
Die Kröte blies lautlos die Luft aus ihren Backen. Drinnen im Haus knallte eine Tür. Pip und die Kröte zuckten gleichzeitig zusammen. Jeder im Dorf wusste, dass am zweiten November die Seelen einen Tag Urlaub vom Fegefeuer bekamen. Deshalb durfte man die Türen nicht zu hastig schließen, weil sich sonst eine arme Seele einklemmen konnte. Auch durften keine Bratpfannen auf dem Herd stehen bleiben, weil eine arme Seele sich darin verbrennen könnte. Und ganz schlimm war es Messer offen liegen zu lassen, mit der Schneide nach oben, weil dann die armen Seelen darauf reiten mussten.
Natürlich hatte Agatha alle ihre Pfannen auf den Herd gestellt, und überall in der Küche Messer verteilt.
„Husch“, machte Pip, „Fort mit dir.“
Jeder wusste auch, das die arme Seelen unsichtbar durch die Luft fliegen; Seelengeister, ein verlorener Atemhauch. Sie können jedoch auch allerlei merkwürdige Gestalten annehmen, zum Beispiel als Unken, Frösche und Kröten.
„Ist es schlimm im Fegefeuer?“
Die Kröte machte eine Bewegung, die wie ein Schulterzucken aussah. Pip hatte das mit dem Fegefeuer sowieso nie ganz verstanden. Eine Art höllisches Vorzimmer zum Himmel, in dem man noch schnell die ganzen kleinen Sünden büßen musste, die man so angesammelt hatte, bevor man bereit für die Engel war? Das kam ihm wie unnötige Quälerei vor.
„Tut mir leid, ich kann dir wirklich nichts für dich tun.“
Die Kröte sah unglücklich drein. Denn die armen Seelen kamen nicht nur zurück, um sich auszuruhen, sondern um die Lebenden um Hilfe zu bitten, um Seelenruhe. Pip wusste, das manche Leute im Dorf heute Abend Hirsebrei essen würden. Denn jedes gegessene Hirsekorn bedeutete eine aus dem Fegefeuer befreite Seele.
„Wo steckst du, Nichtsnutz?“
Jetzt war Agatha doch noch in den Garten gekommen. Gleich wäre sie bei ihnen, gleich … Pip und die Kröte wechselten einen erschreckten Blick, und dann tat er etwas spontanes, das ihn buchstäblich in Teufels Küche bringen konnte. Er hob die Kröte auf, die sehr leicht und etwas feuchtkalt war, und steckte sie in seine Hosentasche.
„Hast du etwas gefunden?“
„Nein, Tantchen.“
„Alles muss man selber machen,“ brummte Agatha. „Während du hier draußen Maulaffen feil hieltest, habe ich zwei Seelen in der Tür eingeklemmt.“
Pip spürte, wie die Kröte in seiner Hosentasche zitterte.
„Los, rein mit dir, du musst noch alles putzen.“
„Ja, Tantchen.“
Es gab viel zu tun, während der Nachmittag sich verdunkelte. Pip putze und schwitzte. Glücklicherweise verhielt sich die Kröte in seiner Hosentasche ruhig. Pip hatte nicht gewusst, wohin mit ihr aus Angst, die Hexe würde sie entdecken. Zur Teezeit grollte Donner über den Himmel.
„Wasch dich, du bist ganz dreckig!“, befahl Agatha. „Schnell!“
Der Tee für den Teufel sollte im roten Salon serviert werden. Pip stand vor der schweren, mit Schnitzereien verzierte Tür und wischte sich mit der linken Hand einen Schweißtropfen von der Stirn. Das feine Porzellanservice auf dem Tablett in seiner rechten klirrte leise. Die Zuckerwürfel zitterten in ihrem Schälchen. Pip atmete tief ein und wieder aus. Er blickte noch einmal an sich herab. Er hatte sein Gesicht geschrubbt, Hemd und Hose abgebürstet und die Schuhe mit Spucke poliert. Mehr ging nicht.
„Wo bleibst du denn, Junge“, ertönte von drinnen Agathas ungeduldige Stimme.
Pip trat ein.
Im linken Sessel, gleich neben dem Kamin, saß ein Gentleman, ganz in Schwarz gekleidet. Er war lang und dünn, hatte ein feingeschnittenes, scharfkantiges Gesicht und dunkle Augen, die sich interessiert auf Pip hefteten.
„Ein neuer Schützling, Agatha?“
Tantchen saß im rechten Sessel. Sie hatte sich die roten Haare zu einem schiefen Gebilde auf den Kopf getürmt und sich dazu noch in ein dunkel lilafarbenes Samtkleid gequetscht, aus dem ihr Busen oben herauszuquellen drohte wie Hefeteig aus einer Backschüssel. Ihre giftsumachgrünen Augen verfolgten aufmerksam jede Bewegung Pips, der sein Tablett vorsichtig auf den kleinen Tisch zwischen ihnen stellte.
„Mein Neffe.“
„Ah, Familie“, sagte der Teufel. „Es geht doch nichts über Familie.“
„Genau“, sagte Agatha mit falschem Lächeln.
Pip goss den Tee ein. Der Teufel schnupperte prüfend.
„Earl Grey. Agatha, Sie verwöhnen mich.“
Tantchen wurde rot und kicherte wie ein Schulmädchen.
„Aber das ist erst der Anfang, mein Verehrtester.“
„Sie machen mich neugierig, meine Liebe.“
Agatha lächelte und schnippte mit dem Finger. Pip lief sofort in die Küche. Da standen sie, auf der Anrichte: die Seelenkekse. Normalerweise buken die Leute im Dorf diese Kekse als Nahrung für die armen toten Seelen. Das hatte Agatha auf eine ganz besonders fiese Idee gebracht. Vier Stück ihrer besonderen Version hatte sie gebacken und auf ihrem kostbaren alten Porzellanteller angerichtet. Die Kröte in Pips Hosentasche bewegte sich unruhig.
„Still“, flüsterte Pip. „Ich setzte dich heute Nacht raus, wenn sie schläft.“
Er nahm den Teller und trug ihn vorsichtig in den Salon.
„Frisch gebacken, extra für Sie“, sagte Agatha stolz.
„Kekse?“, sagte der Teufel.
„Ganz besondere Kekse!“, kicherte Agatha. „Ich habe sie mit Seelen gebacken. Ein wahrhafter Leckerbissen, extra für euch, mein Herr.“
„In der Tat“, sagte der Teufel. „Was für eine köstliche Idee. Jetzt kann ich mir Seelen einverleiben, die eigentlich schon für den Himmel bestimmt waren. Seelen, gewürzt mit der Qual des Fegefeuers, dazu eine schöne Tasse Earl Grey.“
Er griff nach einem Keks.
„Was passiert dann mit ihnen?“, platze es aus Pip heraus.
Der Teufel hielt inne und sah Pip an. Er konnte auf den Grund seiner Seele blicken und alles, alles sehen. Pip fühlte sich nackt und schutzlos.
„Ruhe! Wer hat dir erlaubt, meinen Herrn anzusprechen?“, blaffte Agatha.
Der Teufel winkte lächelnd ab. „Schon gut, Agatha. Diese Seelen kommen natürlich mit mir mit in die Hölle.“
Alles umsonst, alle Fegefeuerqualen. Kein Himmel für die armen Seelen.
„Aber da gehören sie nicht hin.“
„Und wer entscheidet das, du vielleicht?“, sagte der Teufel belustigt.
„Er hat gar nichts zu entscheiden“, giftete Agatha.
Pip streckte beide Hände aus. Er grapschte sich sämtliche Kekse und fegte dabei auch noch den Teller vom Tisch. Das Klirren von Porzellan ging in dem schrillen Wutschrei der Hexe unter. Ohne zu zögern, denn jetzt war sowieso alles egal, stopfte Pip sich die Gebäckstücke in den Mund. Er kaute, schluckte, stopfte nach und sein Mund füllte sich mit Rosinen, Nelke und Zimt, sein Bauch wurde warm, durch seine Adern schien kein Blut mehr zu rinnen, sondern Glühwein.
Pip war randvoll mit Leben, von Kopf bis Fuß, er konnte sich an alles erinnern, was die vier Menschen erlebt und getan hatten. Ihm wurde schwindlig, es war wie eine rasante Karussellfahrt auf dem Rummelplatz, bunte Lichter, laute Musik, aufgeregte Stimmen, Kribbeln im Bauch. So viele Geschichten, so viele Gefühle! Wie aus weiter Ferne hörte er Agathas wütendes Kreischen, er sah sie auf sich zukommen, die Hand erhoben zum Schlag, aber etwas drängte sich dazwischen, zwischen ihn und die wütende Hexe. Ein großer schwarzer Schatten. Agatha verstummte, und das Karussell in Pips Kopf verlangsamte seine wilde Fahrt.
„Hat es dir geschmeckt?“, wollte der schwarze Schatten wissen.
Pip hatte große Schwierigkeiten, klar zu denken, aber die höchst erstaunliche Antwort auf diese Frage kam ohne Probleme:
„Ja.“
Agatha heulte wütend auf, der Teufel brachte sie mit einer nachlässigen Handbewegung zum schweigen. Er lächelte.
„Möchtest du mehr davon?“
Die Musik wurde immer leiser, der Rummelplatz verblasste. Es war ein berauschendes Gefühl gewesen.
„Ja.“
„Dann komm mit mir“, sagte der Teufel und streckte seine Hand aus. „Werde mein Lehrling und du wirst jeden Tag und jede Nacht noch ganz andere Köstlichkeiten probieren dürfen.“
Hinter ihm begann das Kaminfeuer höher zu lodern. Pip zögerte.
„Ich bin sicher, Agatha hat nichts dagegen“, sagte der Teufel.
„Selbstverständlich“, zischte die Hexe zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Es ist mir eine Ehre, es ist der Familie eine Ehre.“
Pips Hand schien sich von ganz allein zu bewegen, wollte nach der des Teufels greifen. Da spürte er etwas in seiner Hosentasche. Die Kröte rumorte darin herum und ehe Pip es sich versah, war sie schon heraus gehüpft. Da saß sie, vor dem Kamin, und blies warnend ihre Backen auf. Die Hexe schrie wütend: „Vermaledeiter Junge, nichtsnutziger Lügner.“
Sie stürzte sich auf die Kröte, doch diese hüpfte elegant zur Seite. Die Hexe stolperte und fiel in das Kaminfeuer. Funken stoben auf, landeten auf Sofa, Teppich und Gardinen. Die Haare der Hexe und das grüne Samtkleid fingen sofort Feuer. Das hatte er nicht gewollt. Voller Schrecken ergriff Pip die Teekanne und tränkte seine Tante mit Earl Grey. Jetzt war Agatha pitschnass und fuchsteufelswild.
„Ich dreh dir den Hals um!“, rief sie und wollte sich auf Pip stürzen.
Doch ein schwarzer Schatten mischte sich ein.
„Und in der Zwischenzeit brennt das Haus nieder?“
Neben Agatha fielen brennende Vorhänge zu Boden.
„Wasser!“, schrie sie und rannte in die Küche.
„Ich denke, wir sollten ihr besser nicht länger im Weg sein“, sagte der Teufel.
Er zwinkerte Pip zu, dieser hörte ein mächtiges Rauschen und im nächsten Augenblick schon standen beide draußen auf dem kleinen Weg vor Agathas Häuschen am Gartenzaun. Pip schüttelte sich. Es kribbelte ihm am ganzen Körper.
„Eine kleine Nebenwirkung ungewohnter Transportarten. Das geht vorbei“, sagte der Teufel.
Wo war die Kröte, hatte sie es aus dem Haus geschafft? Pip verrenkte sich beinahe den Hals. Drüben am Brunnen huschte etwas Grünes durchs Gras.
„Und, hast du es dir überlegt? Mein Angebot steht noch.“
Pip schüttelte den Kopf. So verlockend es ihm auch geschienen hatte im ersten Moment, das konnte er den armen Seelen nicht antun. Aber was würde der Teufel dafür jetzt ihm antun? Pip hielt die Luft an und duckte sich. Der Teufel lachte.
„Interessant.“
„Sie sind nicht böse?“, fragte Pip.
„Ich bin vor allem gelangweilt. Die Menschen geben viel zu schnell allen möglichen Versuchungen nach. Es wird mir ein Vergnügen sein, zuzugucken, wie lange du brauchst, um nachzugeben.“
Pip verschränkte die Arme vor der Brust.
„Was wirst du mit den Seelen anfangen?“, fragte der Teufel interessiert.
Pip hatte keine Ahnung. Er konnte sie immer noch in sich spüren, nur etwas gedämpfter. Wie das sanfte Glühen eines Sonnenunterganges.
„Ich gebe dir einen kleinen Tipp: Wenn du sie retten willst, musst du jede einzelne persönlich nach Hause bringen.“
„Ins Fegefeuer?“
„Nein“, lachte der Teufel. „Dorthin, wo sie hergekommen sind. Ich wette, das schaffst du nicht.“ „Klar schaffe ich das“, sagte Pip entschlossen.
„Sehr gut“, freute sich der Teufel. „Ich gebe dir sechs Tage. Wenn du es in dieser Zeit nicht schaffst, dann gehört mir deine Seele ebenfalls.“
„Sechs Tage …“ Pip wurde ganz schummerig zumute.
„Ich könnte dich auch jetzt gleich einfach so mitnehmen. Aber wo bleibt da der Spaß?“
„Spaß?“, echote Pip schwach.
„Solltest du es jedoch fertigbringen, dann behältst du deine Seele und ich gewähre dir einen Wunsch.“
Und so kam es, dass Pip eine Wette mit dem Teufel einging.
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