Puppentraum

Puppentraum

Diese Geschichte entstand bei einem Schreibworkshop aus der Reihe Ortstermin im Museum Reinickendorf, nach einer Führung durch den dortigen Hannah-Höch-Raum.

 

Puppentraum

 

Die Künstlerin hat eine Puppe erschaffen und die Mondfrau hat ihr nächtens einen Kuss gegeben, da ist die Puppe erwacht. Schwarz-weiß liegt das Atelier im Mondlicht, das durch ein staubiges Fenster herein lugt.

Die Puppe besteht aus Stoff und Wolle, Knöpfen und Perlen. Sie bekam Sehnsucht in ihr Herz gestrickt, und Schmerzen in ihren Bauch, in ihre Hände wurde Widerstand gewebt und in ihr Hirn wurde Hoffnung hinein gehäkelt.

Die Künstlerin kennt sich aus mit Heckenscheren und Stoffscheren, mit Zuschneiden und Abtrennen. Sie hat beruflich Teewärmer entworfen und alles ausprobiert. Sie hat sich Männer gestrickt, die dann prompt an ihren Fäden zupfen und das ganze Beziehungsgeflecht aufribbelten. Sie hat Fotos zerrissen, Welten auseinandergerissen und völlig neu zusammengesetzt. Sie hat sich eine neue Welt erfinden wollen und saß alleine in ihrem Keller, als die Bomben fielen.

Jetzt hat die Künstlerin eine Puppe. Die Puppe weiß alles. Sie ist nicht nur mit Stopfwolle, sondern mit dem Leben der Künstlerin angefüllt bis zum Platzen. Sie hängt an unsichtbaren Sehnsuchtsfäden, die die Künstlerin zieht.

Doch heute Nacht, mit dem Kuss der Mondfrau, ward ein zarter Keim in die Puppe gepflanzt. Ein Wunsch nach Eigenleben. Ein großer Ich-Bedarf und eine Sehnsucht nach Welt.

Die Puppe hat verschiedenfarbige Augen. Mit dem linken, dem schwarzen, sieht sie die Vergangenheit. Mit dem rechten, dem blauen, die Zukunft. Ihr ist ein wenig schwindlig, denn überall in der Zeit läuft die Künstlerin herum und betrachtet alles mit einer großen Lupe.

Nur gerade jetzt nicht. Jetzt schläft sie.

Um die Puppe herum ist trotzdem Bewegung, Unruhe. Ein leises Gemurmel liegt in der Luft, die Pinsel tuscheln miteinander, das Papier raschelt empört, die Bleistiftstummel piepsen nervös. Die Puppe sperrt ihre Ohren auf: Das blaue Ei ist verschwunden! Tags stand es noch an seinem Platz, strahlte Ruhe und Gelassenheit aus, war wie ein kleines Stück vom Himmel. Ein Lieblingsstück der Künstlerin. Und nun ist es fort! Und das Fenster steht offen!

In den Terpentingeruch des Ateliers mischt sich Rosenduft aus dem Garten.

„Suchen!“, wispern die Gegenstände im Atelier. „Suchen und finden! Wichtig! Außerordentlich wichtig! Das blaue Ei!“

Die Puppe streicht sich das karierte Kleid glatt und fährt sich kurz über den Bubikopf. Dann hüpft sie von ihrem Regalbrett herunter.

„Ich werde es suchen gehen!“

„Mutig“, wisperte es überall. „Tapfer! Gewagt!“

Die Puppe hüpft durch das Fenster in den Garten hinaus. Was für ein Gewirr an Pflanzen und Gerüchen. Blätter streifen ihr Haar, es riecht nach Lavendel und Thymian. Der Mond bestrahlt hilfreich das Blätterwerk, die Puppe schielt bei der Anstrengung, in die Gegenwart zu blicken. Nirgendwo ein Ei.

Die Puppe ist vorsichtig. Sie weiß, dass sich die Künstlerin in ihrem Garten schon mal aufgelöst hat. Auch wenn es nur auf einem Foto war.

Kein Ei. Nirgends.

Auf einem Hügel stehen die Kakteen in einem Kreis herum, spreizen die Stacheln und betrachten erstaunt das blaue Ding in ihrer Mitte.

„Wie ist das Ei nur hierhergekommen?“

Die Kakteen wissen es nicht. Vorsichtig hebt die Puppe es auf. Ein kleiner blauer Schock fährt durch ihren Körper und ihr Herz beginnt, zu schlagen. Das blaue Ei ist Zuversicht und Weisheit, es ist Lebenslust und Inspiration. Es erfüllt die Puppe mit einer nie gekannten Lebendigkeit, es macht aus Wolle Haut und aus Wünschen Wirklichkeit. Jetzt kann sie hinausgehen in die Welt, jetzt kann sie alles mit eigenen Augen sehen, jetzt kann sie sich anfüllen mit eigenen Erlebnissen, Hoffnungen, Wünschen. Jetzt …

„Bring es zurück“, wispert es aus dem Atelier. „Bring es wieder her. Bring es ihr, sie braucht es.“ Und weil die Puppe von der Künstlerin gemacht wurde, wusste sie auch, dass es stimmte. Ohne das blaue Ei würde ihre Kunst verblassen, ihre Inspiration vertrocknen, ihre Schaffenskraft erlöschen.

Im Rosengarten schneidet die Sternenfrau mit der Heckenschere den Blumen Köpfe ab.

„Was soll ich nur tun?“, klagt die Puppe leise. „Ich möchte leben.“

„Aber das tust du doch schon“, sagt die Sternenfrau. „Du bist unsterblich und wirst noch lange, nachdem die Künstlerin fort ist, weiterleben. In den Köpfen aller Menschen, die dich gesehen haben.“

„Aber das ist nicht mein Leben.“

Die Sternenfrau klappert mit der Heckenschere. „Ohne das Ei ist die Künstlerin verloren.“

Die Puppe horcht in sich hinein. Dorthin, wo die Liebe und Hoffnung der Künstlerin wohnen. Dann seufzt sie leise und bringt das blaue Ei ins Atelier zurück. Auf ihrem Regalbrett sitzt der dicke schwarze Kater der Künstlerin.

„Gut gemacht“, brummt er leise und sie schmiegt sich an sein warmes Fell.

Dann schläft sie wieder ein.

 

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Die Ortstermine sind eine Schreibworkshop-Reihe, die von der Autorin und Schreibcoachin Claudia Johanna Bauer ins Leben gerufen wurde. An verschiedenen interessanten Orten in Reinickendorf gibt es Besichtigungen, Führungen und dann die Gelegenheit, die aktuellen Inspirationen vor Ort in kleine Geschichten, Szenen u.ä. umzusetzen.

Diesmal ging es um Hannah Höch.

Im Hannah-Höch-Raum des Museums Reinickendorf sind Werke der Künstlerin ausgestellt und eine Biografie gibt Auskunft über ihr Leben. Ich fand das Ganze sehr spannend, vor allem die Collagen, für die sie bekannt geworden ist. Aber auch der Rarit-Schrank, in dem sie kleine Dinge, ihre Raritäten, sammelte, die sie inspirierten, und das blaue Ei, ein Stopfei, welches sie ihr Leben lang begleitet hat.

Hannah Höch mit Ei vor Rarit-Schrank, Farbfotografie, Anfang der 1970er Jahre, Liselotte und Arnim Orgel-Köhne

So ein Ortstermin bringt frischen Wind ins Autorinnengehirn, wie ich begeistert festgestellt habe. Es tut gut, mal wieder vom Schreibtisch wegzukommen. Und irgendwie muss ja der Inspirationsbrunnen zwischendurch auch wieder aufgefüllt werden. Damit er nicht ganz versiegt.

Wie ich mich in meinem Garten auflöse (Farbfotografie, 1971), Liselotte und Armin Orgel-Köhne)

 

Blaues Ei, Glas. Hannah Höch bekam es 1894 von ihrer Tante geschenkt und bewahrte es in ihrem Rarit-Schrank auf.

 

Die Reihe Ortstermine ist im Kursprogramm der VHS Reinickendorf zu finden, ich kann sie sehr empfehlen.

 

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