Pompeji

Pompeji

Die Faun-Statue hatte Millie zugezwinkert. Oder war nur diese ewige Sonne schuld, wegen der sie dauernd blinzeln musste?
„Wo bleibst du denn?”, rief Alfred ungeduldig und wedelte mit dem Reiseführer.
Pompeji! Der Prospekt hatte eine Studienreise mit Tiefgang versprochen. Alfred war darauf sofort angesprungen, er liebte alles Historische. Früher hatte Millie es spannend gefunden, wenn er von längst vergangenen Zeiten erzählte. Leider hatte sie im Laufe der Jahre feststellen müssen, dass ihr Mann in der toten Vergangenheit feststeckte. Er interessierte sich kein bißchen für die Gegenwart, vor allem dann, wenn diese aus einer lebendigen, warmen, und außerordentlich lustvollen Millie bestand.
„Das ist ja soooo aufregend!”, zirpte Frau Schneider und stöckelte mit knallroten Pumps über die holperige Steinstraße.
Aufregend? Überall Ruinen. Dazwischen abgebrochene Säulen wie Zahnstumpen in einem verfaulten Gebiss. Graue Mauern, mit braunen Flechten überwuchert. Hitze. Das einzig bunte waren die Touristengruppen, die sich durch die engen Gassen schoben und Selfies mit den erstarrt grimassierenden Leichen der ehemaligen Bewohner machten.
„Das hier war alles unter einer fünf Meter dicken Ascheschicht begraben!“, verkündete ihr Reiseführer.
Er hieß Franz und war ein Doktor von irgendwas Historischem. Trotz der Hitze untadelig gekleidet trug er jeden Tag eine Krawatte. Die heutige wies ein schreiend buntes Karomuster auf.
„Man hatte damals übrigens schon Graffiti!” Doktor Franz wies auf ein paar in den Stein eingeritzte Krakeleien.
„Ach ja?”, flötete Frau Schneider. „Was steht denn da?”
„Ich bin dein für ein Kupferstück”, sagte Doktor Franz.
„Sie Casanova!“ Frau Schneider drohte schelmisch lächelnd mit dem Zeigefinger.
Millie fand, sie hatte ein Gesicht wie ein eingetrocknetes Fischstäbchen. Das hinderte die Männer der Reisegruppe keineswegs daran, Frau Schneider immer wieder verstohlen auf den Hintern zu starren, der in ihrer Hose wie Pudding wackelte. Alle starrten, außer Alfred.
Der Faun zwinkerte schon wieder. Kein Irrtum möglich. Es sei denn, Millie hatte sich einen Sonnenstich eingehandelt.
„Die Innenarchitektur der römischen Bäder ist erstaunlich!”, schwärmte Doktor Franz.
„Wir haben daheim einen Swimmingpool im Garten“, sagte Frau Schneider.
Der Faun verdrehte genervt die Augen. Er stand vor den Resten eines Hauses, auf einem kleinen Podest und blickte auf die vorbeiziehenden Touristen herab. Wahrscheinlich musste er sich jeden Tag dumme Sprüche anhören.
Millie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie hätte den Tag gerne am Strand verbracht, wenn sie nun schon mal in Italien waren. Aber Alfred bekam schon beim Gedanken an das Meer einen Hautausschlag.
Der Faun zwinkerte erneut und zeigte auf die Hausruine hinter sich. Es war eine so schnelle Bewegung, dass sie eigentlich gar nicht stattgefunden haben konnte.
„Heute Abend gehen wir in ein erstklassiges Restaurant am Meer und werden richtige italienische Pizza essen. Dazu ein Weinchen von den Hängen des Vesuv“, freute sich Doktor Franz.
Wie gut, dass sie Alfreds Magentabletten eingesteckt hatte. In einer Großpackung.
„Der Vesuv ist übrigens noch aktiv.“
Es war nicht lustig, alt zu werden. Das Hausapothekenschränkchen im Badezimmer quoll über vor diversen Cremes, Pillen, Salben und Pasten. Die meisten davon gehörten Alfred.
„Oh“, hauchte Frau Schneider mit freudigem Entsetzen, „Er könnte ausbrechen?“
„Im Prinzip schon“, meinte Doktor Franz. „Aber höchst unwahrscheinlich.“
Das hatten die Bewohner Pompejis bestimmt auch gedacht. Millie besah sich die Ruine hinter dem Faun. Man konnte sie betreten. Die Stimmen, die aufgeregt einen unentrinnbaren Lavastrom heraufbeschworen, wurden leiser. In den Überresten des Hauses war es angenehm schattig und vor allem ruhig. Wie durch ein Wunder hatte sich kein anderer Tourist hierher verirrt.
An den Wänden verblasste Malereien, eine Ahnung davon, wie bunt die mal gewesen sein mussten. Vor allem, wie anzüglich. Millie trat näher heran. Nackte Männer und Frauen in allen möglichen (und einigen scheinbar unmöglichen) Positionen. Manche von denen hatten Millie und Alfred noch nicht mal damals ausprobiert, als sie jung und verliebt gewesen waren.
Sie schlenderte von einem Bild zum nächsten, spürte etwas in sich aufsteigen, was schon sehr lange unter Alltag und Gewohnheit begraben gelegen hatte. Die wussten damals wenigstens das Leben auszukosten. Gutes Essen, guter Wein, guter Sex. Einfach mal ordentlich über die Stränge schlagen. Wann hatte sie das zuletzt getan, allein, oder mit Alfred zusammen?
Millie konnte sich nicht erinnern.
Alfred, der Verlässliche. Genau das hatte sie an ihm damals gemocht. Dass er immer für sie da war. Alfred der Genaue, der Korrekte, der untadelige Beamte. Der alles einteilte, alles pünktlich erledigte, immer ordentlich und nach Vorschrift. Der selbst das Leben mit einem Messbecher maß. Weil es ihm Angst machte. Weil es eigentlich nicht messbar war. Viel zu groß dafür, viel zu unberechenbar. Dass Alfred mal etwas Unvorhergesehenes tat? Undenkbar.
Schritte knirschten hinter ihr. Als hätte sie ihn herbei gedacht, bog Alfred um die Ecke. Entdeckte die Wandmalereien, machte große Augen, blieb stehen. Millie hielt die Luft an. Zog sich ganz langsam und vorsichtig zurück. Zum Glück gab es einen zweiten Ausgang.
Am Abend in der Pizzeria drehte sich das Gespräch um Arbeit. Die Reisegruppe bestand überwiegend aus pensionierten Studienräten und Professoren, die mit ihrem Karriereweg angaben. Millie trank dunkelroten Vulkanwein, betrachtete die kitschigen Bilder an den Wänden und spürte die Vorboten einer Eruption in sich brodeln.
„Ihre Frau ist eine kleine Träumerin“, nuschelte ein angeheiterter Studienrat.
„Sie hat viel Fantasie“, entgegnete Alfred stolz. „Sie schreibt Geschichten.“
Die Professoren guckten mitleidig.
„Oh wie … interessant!“, flötete Frau Schneider.
Millie war sich sicher, dass sie unter dem Tisch mit Doktor Franz füßelte. Der war nämlich hochrot geworden und schien nicht zu wissen, wo er hingucken sollte.
Auf einem schreiend bunten Ölschinken an der Wand schleuderte der Vesuv rotglühende Brocken über das Land. Millie begriff, was da in ihr brodelte. Die Erkenntnis überkam sie mit unausweichlicher, mitreißender Gewalt: Wir werden alle sterben. Vielleicht nicht jetzt sofort. Aber irgendwann. Ein Vulkan bricht aus. Ein betrunkener Autofahrer übersieht eine rote Ampel. Eine Zelle beschließt, zu wuchern. Ein Herz wird müde vom vielen Schlagen. Wir werden alle sterben.
Ich. Werde. Sterben.
„Likörchen?”
Der angeheiterte Studienrat bot ihr Limoncello an. Er sagte noch irgendetwas anderes, jemand lachte. Millie blickte auf die glänzenden Gesichter, sah die fettigen Münder sich bewegen aber jemand hatte den Ton abgestellt. Oder zumindest so weit gedimmt, dass alles nur noch ein unverständlicher Sprachbrei war. Millie schob ihren Stuhl zurück, stand auf. Alfred blickte sie fragend an. Millie drehte sich um und verließ das Restaurant.
Der Nachthimmel bestand aus blauviolettem Samt, die Sterne darüber hingestreut wie kleine, funkelnde Juwelen. Das Meer ruhig und stetig, ein köstlich erfrischendes Versprechen.
In den leichten Wellen, etwas entfernt vom Ufer, plätscherte eine Seejungfrau herum.
Millie zog ihre Schuhe aus. Ließ sie stehen, ging zum Wasser hinunter. Der Sand kitzelte zwischen ihren Zehen. Wann war sie das letzte Mal barfuß gelaufen? Millie ging weiter, zog sich im Gehen die Bluse aus, ließ sie fallen. Danach folgten die Shorts. Die Nachtluft streichelte ihre Haut. Millie zerrte sich den BH vom Oberkörper. Endlich! Das blöde Ding war sowieso viel zu eng gewesen. Warum zwängten Frauen sich überhaupt in so was rein? Als nächstes folgte das Bauchweg-Höschen. Oh, wie angenehm, wie wunderbar! Millie reckte ihren blassen Bauch ins Mondlicht. Sie war total, vollkommen, herrlich nackt. Millie hob die Arme, breitete sie aus.
Hallo, Meer. Hallo Weite, Tiefe, Stille. Hallo Wellen, hallo Wasser, hallo Sturm.
Die Seejungfrau kicherte.
Millie hörte etwas hinter sich prusten, schnaufen, platschen. Dann stand er neben ihr. Alfred. Bis zum Bauch im Wasser. Er hatte weder seine gebügelte Hose ausgezogen, noch sein gutes weißes Hemd. Er trug bestimmt auch die Schuhe, die er vorhin extra poliert hatte, vor dem Essen.
Eine Weile lang standen sie nur da, nebeneinander, und sahen hinaus. Dorthin, wo das Meer  mit dem Horizont zu einer weichen Dunkelheit verschmolz. Dann räusperte sich Alfred: „Da gibt’s eine kleine Pension am Strand. Die haben noch Zimmer frei.“
„Und die Studienreise?“
„Ich hatte genug  Tiefgang“, sagte Alfred.
Der Vesuv rumpelte leise. Alfred tastete schüchtern nach Millies Hand. Die Seejungfrau winkte und tauchte in den Wellen unter. Millie erwiderte Alfreds Händedruck.
Hoffentlich hatte sie eine große Tube Hautcreme eingepackt.

 

 

______________________________________________________________________

Diese Short Story habe ich als Gastautorin für Clue Writing geschrieben. Besucht ihren Blog, er ist eine wunderbare Geschichtenfundgrube!

Mehr zu mir, meinen aktuellen Romanprojekten, exklusive Kurzgeschichten und Gewinnspiele in meinem Newsletter.

Leave comment

Your email address will not be published. Required fields are marked with *.