Mit der Nase eines Wolfs
Es war ein schöner Tag, um Ungeziefer zu vernichten. Die Sonne stand strahlend am Himmel. Kaum getrübt durch einzelne Schäfchenwolken, schüttete sie ihr goldenes Sommerlicht über das idyllische kleine Tal im grünen Mittelengland. Dort, am Rand des malerischen Dörfchens Lovebury, lebte der alte Werwolf Archibald Howl in einem Cottage und züchtete Rosen.
Den Brennesselsud hatte er selbst angesetzt. Dass die verflixten Blattläuse sich auch ausgerechnet auf seine geliebte, rosafarbene Gertrude Jekyll stürzen würden, die gerade jetzt wunderbar blühte und duftete! Archie schnupperte hingerissen. Sein Geruchssinn war noch ganz in Ordnung, seine Zähne leider nicht mehr. Dass er in seinem Alter außerdem Rücken hatte, war schmerzhaft, aber verständlich. Die monatlichen Verwandlungen gingen ganz schön auf die Knochen. Gut, dass der nächste Vollmond noch ein paar Wochen hin war. Er sprühte die Rose ein.
„Archie?“
Eine durchdringende Frauenstimme übertönte mühelos das Vogelgezwitscher um ihn herum.
„Archie!“
Er duckte sich zwischen seine Rosenbüsche, aber Roswitha hatte ihn schon erspäht.
„Archie, es ist schon wieder passiert! Das ist die dritte Fleischpastete in dieser Woche. Wir haben einen Dieb im Dorf!“
Er richtete sich auf, sein Rücken protestierte knirschend. „Warum stellst du deine Pasteten auch immer auf die Fensterbank zum Abkühlen?“
„Weil das Tradition ist!“
Roswitha, eine Zahnfee im Ruhestand, backte die leckersten Pasteten in Lovebury und ließ alle anderen großzügig daran teilhaben. Stehlen war wirklich nicht nötig und Archie glaubte daher nicht, dass es jemand aus dem Dorf gewesen war.
„Ich habe Eberhard gebeten, gestern Nacht mal die Augen offenzuhalten, aber ihm ist nichts Verdächtiges aufgefallen“, bekannte Roswitha.
„Erstens, der alte Vampir braucht eine Brille, er ist nur zu eitel, um sich eine zu besorgen. Und zweitens, deine Fleischpasteten verschwinden tagsüber, nicht nachts.“
„Jemand ist im Dorf, der nicht hierher gehört!“, beharrte Roswitha.
Das war allerdings ernst.
„Dein Spürsinn war einst legendär“, sagte Roswitha.
Einst? Das tat weh.
Sie holte ein zusammengeknotetes Taschentuch aus ihrer Küchenschürze und öffnete es. Darin waren ein paar Krümel, deren Geruch Archie sofort verlockend in die Nase stieg. Fleischpastete, kein Zweifel.
„Das ist alles, was auf meiner Fensterbank übrig blieb. Wenn jemand von uns den Dieb findet, dann du.“
Archie hatte den Hexenriecher gefunden, der ihre Schutzbarrieren überwunden hatte, weil er glaubte, im Dorf ein paar Hexen zum Verbrennen zu finden (Baba Yaga hatte sich anschließend um ihn gekümmert). Archie hatte auch den Vampirjäger enttarnt, der dem alten Eberhard ein paar sehr unruhige Nächte beschert hatte. Aber diese Vorfälle waren alle schon eine ganze Weile her und sie hatten den Schutz rund um das Dorf entsprechend verstärkt. Eigentlich sollte niemand mehr hierhergelangen, der nicht dazugehörte.
„Unser Rückzugsort steht auf dem Spiel“, klagte Roswitha.
Lovebury: ein kleines Dorf voller alternder Fabelwesen, eine Zuflucht, ein würdevoller Ruhesitz, vor neugierigen menschlichen Augen durch allerlei Zauber und kleine Tricks verborgen. Und jetzt hatte sich jemand Zutritt verschafft. Warum? Sicher nicht nur, um Fleischpasteten zu stehlen.
„Ist gut, ich kümmere mich darum.“
„Und ich backe eine neue Fleischpastete, ganz allein für dich. Als Belohnung.“
Roswitha zwinkerte und machte sich auf den Weg.
Archie sog erneut den Duft der Krümel ein. Dann legte er den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Ja, da lag ein leichter Hauch von Roswithas typischer Gewürzmischung in der Luft: Oregano und Rosmarin. Archie witterte nach rechts und links, sein Instinkt erwachte und er ließ sich von ihm leiten. Schnellen Schrittes (nicht allzu schnell, da machten die Knochen nicht mehr mit) schlug er sich nach links in das Unterholz des Waldes, der an sein Cottage grenzte.
Im grünen Dämmerlicht unter dem dichten Blätterdach war es verdächtig still. Und obwohl er in menschlicher Gestalt steckte und nicht mehr der Jüngste war, trabte Archie fast lautlos immer tiefer in den Wald hinein. Seine Jagdlust wurde stärker. So jung hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Trotzdem musste er vorsichtig sein. Er hatte nur noch halb so viel Kraft wie damals und sein Gebiss war bereits zur Hälfte künstlich.
Die Bäume standen dichter, der Geruch wurde stärker. Links vor ihm raschelte etwas im Unterholz. Archie erstarrte, schnupperte. Seine Nackenhaare sträubten sich. Ja, hier ganz in der Nähe musste der Dieb sein.
„Es ist vorbei, du bist entdeckt.“ Archie verlieh seiner Stimme einen drohenden Unterton, das konnte er noch sehr gut. „Komm raus, sonst machst du alles nur noch schlimmer.
Ein Scharren und Kratzen. Plötzlich raschelte es über ihm. Und noch ehe Archie in das dichte Laubwerk spähen konnte, fiel von oben etwas auf ihn herab. Etwas Haariges mit Krallen und Zähnen, das sich schrill knurrend in seiner Strickjacke verhedderte.
„Hey!“
Archie bekam einen kleinen Nacken zu fassen und hielt das zappelnde, grollende Etwas eine Armeslänge von sich entfernt. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er ja noch immer seine Blattlausspritze in der linken Hand hielt.
„Gib jetzt Ruhe, oder du bekommst eine ordentliche Dosis hiervon!“
Er fuchtelte mit dem Spray herum. Brennesselsud war, soweit er wusste, nur für Blattläuse lebensgefährlich. Aber es würde zumindest ordentlich brennen auf der Haut. Das haarige Etwas knurrte und fletschte die Zähne, aber es zappelte sehr viel weniger. Archie konnte es erst jetzt in Ruhe betrachten. Es? Sie!
Ein Mädchen mit einem wilden schwarzen Haarschopf, zerrissenen Hosen und dreckigem grauen T-Shirt. Sie war barfuß und um ihre Mundwinkel herum zeugten Krümel von einem jüngst stattgefundenen Festmahl. Ein Ausreißer? Die Menschen gingen so achtlos mit ihrem Nachwuchs um.
„Wer bist du denn?“, wunderte sich Archie.
Das Mädchen schnappte nach seinem Handgelenk.
„Vorsicht!“
Archie hielt das Blattlausspray hoch. Sie knurrte, bleckte die Zähne. Kräftige, weiße Beißerchen, um die Archie sie sogleich beneidete. Und dann erst begriff er: kein Mensch. Und daher auch kein Wunder, dass sie durch die sorgfältig aufgerichteten unsichtbaren Barrieren gekommen war. Er hätte es an ihrem Geruch bemerken müssen. Aber seine Nase hatte eben doch nachgelassen. Archie bleckte nun seinerseits die (noch verbliebenen) Zähne. Dann legte er den Kopf in den Nacken und stimmte ein kleines Tageslicht-Geheul an. Es war nichts im Vergleich zu den Geheulen, die er in mondhellen Nächten zu veranstalten pflegte, aber es konnte sich hören lassen. Und dann stimmte ein zweites, feineres Geheul mit ein.
Sie ließen ihr Duett im Wald verklingen, dann setzte Archie das Mädchen vorsichtig ab. Sie tat sofort drei Schritte rückwärts, bereit, jederzeit wieder zu verschwinden.
„Schon gut“, sagte Archie. „Ich tu’ dir nichts.“
Sie verengte misstrauisch die Augen. Er schleuderte die Blattlausspritze ins Gebüsch.
„Wie kommst du hierher, wer hat dir von uns erzählt? Und was ist mit deiner Familie, deinem Clan?“
Ihre Augen begannen, verräterisch zu glänzen. Archie schalt sich einen Tölpel. Wahrscheinlich von den Menschen ausgerottet, wie so viele ihrer Art da draußen. Wer wusste schon, was die Kleine bereits alles mitansehen musste. Er dachte an die anderen im Dorf. Sie waren nicht auf Kinder eingestellt, wollten nichts als Ruhe und Frieden haben. Und trotzdem wusste er, dass sie dieses Mädchen nicht wieder fortschicken würden. Im Stillen fand er ja, dass ihnen ein bisschen mehr Aufregung nur guttun könnte. Davon abgesehen, Eberhard, der aus dem Erzgebirge stammte, konnte wunderbare Holzspielzeuge schnitzen. Und Roswitha würde sich freuen, jemanden bemuttern zu dürfen.
„Noch hungrig?“
Das Mädchen nickte. Er kannte das. Nichts war futterintensiver als die Aufzucht junger Werwölfe.
„Roswitha bäckt gerade eine neue Fleischpastete. Und sie teilt gerne.“
Sie blickte unschlüssig zurück, dann wieder ihn an.
„Ich heiße Archie. Und es gibt selbstgemachte Limonade.“
Ein leises Wispern: „Miranda.“
Archie nickte, drehte sich um und begann langsam zurückzugehen. Nach drei Schritten hörte er hinter sich ein leichtes Tapsen.
Das würde ein aufregender Sommer werden.
_____________________________________________________________
Phantastischer Montag: Neues Jahr, neue Geschichten, jeden Montag eine, reihum auf unseren Blogs zu lesen. Damit euer Montag ein wenig phantastischer werden möge, haben sich drei Autor*innen zusammengefunden. Wer wir sind und was euch erwartet, steht hier nachzulesen: Phantastischer Montag 2023.
Im April schreiben wir paranormal cozy crime. Maike Stein hat hier ein paar Gedanken dazu beigetragen und C.A. Raabe erklärt hier, worum es geht.
Ihre Storys dazu werde ich nach Erscheinen hier auf dieser Seite verlinken:
Bei C.A. Raaven ist es Der Fallobstfall.
Und bei Maike Stein Das Rätsel um die verschwundenen Knochen.
Ihr findet den phantastischen Montag übrigens auch auf FB und Instagram. Bei Insta gibt es jeden ersten Montag im Monat um 20 Uhr einen kleinen booktalk live, wo wir über unser Thema des Monats und die Bücher, die uns inspiriert haben, reden werden.
Und unser erste Buch ist auch schon da:
Viel Spaß beim Lesen!