Grüner Daumen
Ich zog meinen weichen roten Schal fester um mich, als ich in der abendlichen Herbstdämmerung zur Bibliothek eilte. Kalter Wind trieb leise raschelnd Blätter vor mir her und zauste meinen Haarschopf. Es roch feucht nach Laub und Erde. Ich wünschte mir, bei meinem Buch und einem Becher Tee daheim geblieben zu sein, doch das würde mein Problem nicht lösen.
Die Bibliothek lag am alten Kanal, ein großer, ungeschlachter Bau, der ein wenig aussah wie ein gestrandetes Schiff. Kein Licht schien von innen, es war spät, die Öffnungszeit längs vorbei. Ich verlangsamte meine Schritte. Das hatte ich ganz vergessen. Wer würde mich einlassen, wenn das ganze Personal schon gegangen war?
Um eine altmodische Straßenlaterne flatterten zwei kleine Fledermäuse.
Die Eingangstür, eine moderne Glasfront, spiegelte den verlassenen Vorplatz, auf dem eine Statue von Alice sich wünschte, ins Wunderland zurückzukehren. Die Tür öffnete sich tatsächlich nicht. Ich beschirmte meine Augen mit der rechten Hand und spähte in die Dunkelheit zwischen den Regalen. Mein Atem malte Nebelwölkchen auf die Scheiben.
Um acht Uhr hatte es geheißen, also in fünf Minuten. Ich war bestimmt nicht die einzige. Oder doch?
„Ähem.“
Ein Räuspern, etwas weiter links von mir. Ich zuckte zusammen.
„Sie sind pünktlich, das gefällt mir.“
Im Gemäuer hatte sich eine kleine Tür geöffnet, in der eine schmale Person mit Samtweste und Kneifer stand.
„Gestatten, Kleist. Für Neuankömmlinge ist unser kleines Treffen immer schwer zu finden, deshalb erlaube ich mir, Sie persönlich abzuholen.“
Ich fand meine Sprache wieder: „Guten Tag, Herr Kleist.“
„Einfach nur Kleist.“
Kleist streckte die rechte Hand aus. Ich zögerte kurz, dann ergriff ich sie. Meine Linke steckte in einem feinen Lederhandschuh, was Kleist sehr wohl bemerkte, aber nicht kommentierte. Es ging in einen schwach erleuchteten Gang hinein, an dessen Ende Treppenstufen hinunterführten.
„Die Bibliothek stellt für unsere Zusammenkünfte großzügigerweise einen Raum zur Verfügung.“
Wir waren am Ende der Treppe angelangt.
„Hier befindet sich das Magazin.“
Reihen um Reihen von Bücherregalen verloren sich in der Dunkelheit. Es roch nach Leder, Staub und altem Papier. Vor allem aber war es warm. Ich lockerte meinen Schal.
„Einfach immer geradeaus.“
Wir gingen durch einen Büchertunnel auf eine Tür am anderen Ende des Raumes zu. Vor dieser angelangt, hielt Kleist kurz inne.
„Bereit?“
Ich atmete tief durch.
„Keine Angst, niemand wird dich fressen.“
Kleist zupfte an der tadellos sitzende Weste, zwinkerte mir zu, legte eine Hand auf die Türklinke. Ich nickte.
Die Tür öffnete sich in einen weiß gestrichenen Raum hinein, der etwas von einem Klassenzimmer hatte. Es gab sogar eine altmodische Kreidetafel an einem Ende und daneben stand ein Globus. Nur das hier keine Kinder, sondern fünf Erwachsene einen losen Stuhlkreis bildeten. Als wir eintraten, verstummten ihre Gespräche und alle drehten sich nach uns um.
„Ihr Lieben, ich habe euch unseren Neuankömmling mitgebracht. Begrüßen wir herzlich … ?“
„Äh, ich bin Mona. Mona Grau.“
„Hallo Mona“, wurde durcheinander gemurmelt.
„Hier ist noch Platz!“, rief ein alter Herr, der ein merkwürdiges buntes Gebilde auf dem Schoß hielt, an dem er strickte. Was wohl sein Problem war?
„Deinen Mantel kannst du da drüben aufhängen“, sagte ein junges Goth-Mädchen und musterte mich ebenso neugierig, wie ich wahrscheinlich gerade sie.
Kleist nahm ebenfalls Platz:
„Wir beginnen am besten mit einer kleinen Vorstellungsrunde. Mona?“
Na klar, ich musste anfangen. Erwartungsvolle Gesichter wanden sich mir zu. Ich räusperte mich und zupfte nervös an meinem Handschuh.
„Alles fing damit an, dass auf meinem linken Daumennagel ein feiner grüner Pelz zu sprießen begann. Es sah aus, als hätte ich eine besonders ausgefallene Maniküre erhalten in Form eines Miniaturkunstrasens.“
Mitfühlendes Gemurmel, ein paar Köpfe reckten sich neugierig nach vorne und begutachteten meinen Handschuh.
„Wie lang ist das her?“, wollte Kleist wissen.
„Drei Monate ungefähr.“
„Aha.“
„Zuerst dachte ich an eine Haut- oder besser, an eine Nagelkrankheit. Aber kein Arzt kannte diese Symptome. Es tat auch nicht weh, oder juckte. Gar nichts. Der feine grüne Pelz wurde immer dichter und dann, eines Morgens, beim Zähneputzen, hat es meine Zahnbürste erwischt.“
„Erwischt?“, wiederholte das Goth-Mädchen interessiert.
„Am besten, ich zeige es euch.“
Aus meiner Handtasche holte ich einen billigen Kugelschreiber, den ich extra für heute Abend eingesteckt hatte. Dann streifte ich vorsichtig meinen Handschuh ab. Mein linker Daumen sah aus, als hätte er einen kleinen, wilden, grünen Haarschopf. Ich streckte meine Hand aus, nahm den Kugelschreiber von der Rechten in die Linke und strich mit meinem Daumen darüber. Fast augenblicklich überzog eine dichte grüne Vegetation das kleine Schreibinstrument und verwandelte es in einen Minidschungel.
Bewunderndes Gemurmel ertönte.
„Cool!“, sagte das Goth-Mädchen.
„Das König-Midas-Syndrom“, sagte Kleist.
„Gold wäre praktischer“, meinte der wieder eifrig strickende alte Herr.
„Nun, wir wissen alle, wie das ausging“, sagte Kleist.
„Nö.“
„Alles, was er anfasste, wurde zu Gold. Selbst sein Essen. Er ist inmitten seines Reichtums verhungert.“
Alle Gesichter wanden sich mir zu.
„Deshalb der Handschuh.“ Ich streifte ihn mir wieder über.
„Geh mal in die Innenstadt, da ist alles nur Glas, Stahl und Beton. Echt hässlich. Da kannste doch bestimmt was machen?“, schlug das Goth-Mädchen vor.
Zustimmendes Nicken ringsum.
„Da gibt es nur ein kleines Problem: Ich habe keine Kontrolle darüber. Im Moment sind es noch Kleinigkeiten, aber es breitet sich mehr und mehr aus. Das Grünen beginnt von allein und hört auch von allein wieder auf. Wenn es eine richtig große Fläche zur Verfügung hätte, dann weiß ich nicht, ob es sich auch rechtzeitig wieder bremsen kann.“
„Die ganze Welt, ein Dschungel“, freute sich das Goth-Mädchen.
„Das wäre vielleicht nicht so schlimm“, sagte ich. „Aber letzte Woche habe ich versuchsweise die Nachbarkatze gestreichelt …“
„Krass!“, rief das Goth-Mädchen.
Mein Sitznachbar zur Linken rückte ein klein wenig von mir ab.
„Danke, Mona“, sagte Kleist. „Wir werden die Vorstellungsrunde gleich fortsetzen, damit du die anderen kennenlernst. Aber vorher lass mich noch sagen, dass du hier ganz richtig gelandet und herzlich willkommen bist. Im Volkshochschulkurs Magische Kräfte für Anfänger wirst du zusammen mit den anderen lernen, wie du mit deinen Fähigkeiten umgehen, sie beherrschen und gezielt einsetzen kannst.“
So hatte es auch im VHS-Halbjahresprogramm gestanden und deshalb hatte ich mich angemeldet.
„Keine Angst“, sagte das Goth-Mädchen. „Kleist ist klasse.“
Ich entspannte mich ein wenig und musterte nun meinerseits die anderen neugierig.
Es versprach, ein interessanter Herbst zu werden.
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