Am Anfang war der Beutel
Ein kleines Büchlein mit großer Wirkung. In Ursula K. LeGuins „Am Anfang war der Beutel“ geht es u.a. um ihre Tragetaschentheorie des Erzählens (die mich prompt zu einem neuen Schreib-Projekt inspiriert hat).
Die amerikanische SF- und Fantasy-Autorin LeGuin beginnt ganz von vorne.
Nur 15 Stunden pro Woche haben unsere Vorfahren gebraucht, um die notwendigen pflanzlichen Nahrungsmittel zu sammeln oder kleine Tiere in Fallen zu fangen. Der Rest der Zeit war angefüllt mit Kochen, Sachen bauen, Kinder großziehen, Lieder singen oder nachdenken. Die, die dazu allerdings weder Lust noch das entsprechende Können hatten, zogen los, um Mammuts zu jagen. Und sie kehrten nicht nur mit Fleisch zurück, sondern auch mit Geschichten.
Es ist einfacher, eine Geschichte von Kampf und Sieg, von Blut und Totschlag zu erzählen als davon, wie jemand Haferkörner sucht oder Pilze sammelt, und dann regnet es und das Kind findet einen Käfer etc etc.
„Diese Geschichte (der Jäger) hat nicht nur Action, sie hat auch einen Helden. Helden sind wirkmächtig. Im Handumdrehen werden die Männer und Frauen im wilden Hafergrund und deren Kinder und die Fertigkeiten der Sachenbauerinnen und die Gedanken der Denker und die Lieder der Sängerinnen in den Bann des Helden gezogen und in den Dienst seiner Heldengeschichte gezwungen. Doch es ist nicht ihre Geschichte. Es ist seine.“ (S. 13-14)
LeGuin nennt das eine Killergeschichte, die leider die überwiegend vorherrschende Erzählform geworden ist. Eine Geschichte, die geradlinig erzählt wird, so wie ein Pfeil, der vom Bogen schnellt, schnurstracks ins Ziel (welches er dabei tötet), dass Konflikt (e) die zentralen Anliegen jeder Erzählform seien und dass eine Erzählung schlecht ist, in der der Held nicht vorkommt.
„Das Problem ist nur, dass wir alle zugelassen haben, selbst zu einem Teil der Killergeschichte zu werden, so dass deren Ende auch uns den Garaus machen könnte.“ (S.18)
Dem gegenüber stellt sie die Beutelform des Erzählens. Das Erzählen der Lebensgeschichte, wie es seit alters her in Schöpfungs- und Wandlungsmythen, Narrengeschichten, Volkserzählungen und Witzen geschieht.
Der Roman als Erzählform, obwohl vom Helden gekapert, eignet sich gut dafür, denn „der Roman ist eine im Kern unheroische Form des Erzählens“.
„Ein Buch fasst Wörter. Wörter fassen Dinge. Sie tragen Bedeutungen. Ein Roman ist ein Medizinbündel, das Dinge in einem ganz bestimmten, wirkmächtigen Verhältnis zueinander und zu uns stehend fasst.“ (S.19)
Konflikte können natürlich ein Teil des Medizinbündels sein, doch LeGuin empfindet die Verkürzung des Erzählens auf Konflikte als absurd. Sie sind notwendige Elemente eines großen Ganzen „das sich nicht einfach entweder als Konflikt oder als Harmonie beschreiben lässt, da sein Zweck weder Auflösung noch Stagnation, sondern schlichtweg die Aufrechterhaltung eines Prozesses ist.“ (S.19)
Im Beutel gibt der Held keine gute Figur ab. Er braucht eine Bühne oder ein Podest.
„Wenn er in einen Beutel gesteckt wird, sieht er aus wie ein Hase oder eine Kartoffel. Deshalb mag ich Romane: Anstatt von Helden sind sie von Menschen bevölkert.“ (S.20)
Der Held als Kartoffel. Ich liebe dieses Bild, ich mag die Theorie. Doch als Autorin wurde mir jahrelang eingebläut, wie ich Geschichten zu erzählen habe, welche Strukturen es gibt, welche Erzählformen erfolgversprechend sind. Die Heldenreise gehört zu den ältesten, erfolgreichsten. Und ja, ich mag z.B. Star Wars, ich mag Action, Mord und Totschlag im Dienste des Sieges der Guten über das Böse. Aber wo führen uns diese Erzählungen hin? Und vor allem, haben wir nicht schon mehr als genug von ihnen gehört? Da finde ich die Beutel-Theorie doch viel reizvoller.
„Als ich anfing, Science-Fiction-Romane zu schreiben, begann ich also, diesen großen schweren Sack voller Dinge mit mir herumzuschleppen, meine Tragetasche, vollgepackt mit Weicheiern und Tollpatschen, mit winzigen Samen von Dingen, die kleiner als Senfkörner sind, mit filigran gewirkten Netzen, die, wenn sie mühevoll entknotet werden, den Blick auf einen blauen Kiesel freigeben, mit einem Chronometer, das mit unbeirrbarer Gleichmut die Zeit einer anderen Welt misst und einem Mäuseschädel; vollgepackt mit Anfängen ohne Enden, mit Initiationen, Verlusten, Wandlungen und Übersetzungen, mit weit mehr Tricks als Konflikten, und weit weniger Triumphen als Fallstricken und Desillusionierungen; vollgepackt mit Raumschiffen, die Pannen haben, Missionen, die scheitern, und Leuten, die nichts verstehen.“ (S.20)
Letztendlich geht es darum, wie Menschen miteinander und mit dieser Welt umgehen.
„Richtig verstanden ist Science Fiction, so wie jede ernstzunehmende erzählende Literatur (…) ein Versuch, das zu beschreiben, was passiert, was Leute tun und fühlen, wie Menschen sich zu allem anderen in diesem riesigen Sack befindlichen in Beziehung setzen, zu diesem Mutterleib des Universums, zu dieser Gebärmutter der Dinge, die einst kommen, und dieser Grabstätte der Dinge, die einst waren, jener unendlichen Geschichte.“ (S.21)
Ich muss gestehen, dass ich bisher sehr wenig von LeGuin gelesen habe (und es ist laaaange her), aber das werde ich ändern.
Eine Idee für einen Beutel-Roman habe ich auch schon (wer wissen möchte, wie das weitergeht, kann gerne meinen Newsletter abonnieren).
Und jetzt gehe ich mit erst mal ein paar Kartoffeln kochen.
Lesetipp:
Ursula K. LeGuin: Am Anfang war der Beutel (alle obigen Zitate stammen aus diesem Buch)
thinkOya
96 Seiten, Broschur
ISBN: 978-3-947296-08-8
Hier noch ein Artikel aus der TAZ dazu: Die Dinge im Beutel