Der Wurm im System
Wir haben uns in der öffentlichen Bibliothek verschanzt. Draußen machen die Smileys Party, hier drinnen ist die Stimmung angespannt. Ich weiß nicht, wie lange wir durchhalten können, bis sie uns lachend stürmen werden. Lebensmittel sind knapp, wir verteilen das Wenige, das wir haben, gerecht unter allen, Alt und Jung. Ja, wir haben tatsächlich noch ein paar Alte hier. Außerhalb der luxuriösen Resorts, in denen die Reichen leben, gibt es so gut wie keine mehr.
Aber hier, zwischen den Büchern (die es ansonsten auch nicht mehr gibt), haben sie Zuflucht gefunden.
Ich schreibe dies in der Hoffnung, dass es mich, dass es uns, überlebt. Damit wer auch immer dieses Tagebuch findet, erfährt, was mit der Menschheit passiert ist und warum.
Was mich am meisten beeindruckt hat, ist, wie schnell letztlich alles ging. Es kommt mir vor, als hätten wir gerade gestern noch die Folgen des Klimawandels diskutiert und uns über mögliche Maßnahmen die Köpfe zerbrochen. Natürlich war alles, was wir (wenn überhaupt) taten, viel zu wenig und viel zu langsam. Denn das Eis in der Arktis schmolz immer schneller und schließlich erwachte eine alte Lebensform, die sich innerhalb eines Menschenlebens die Erde untertan machte: ein Parasit. So darf ich den Wurm natürlich nicht nennen. Sie haben ihn Happy getauft, denn das macht er sie, die Smileys. Glücklich.
Ein Wurm, der sich durch deine Nase windet, an dein Gehirn andockt und sich von dir ernährt. Schön langsam und genussvoll. Dabei schüttet er eine Mischung aus Serotonin und anderen Glücklichmachern aus, die seine Opfer in einen permanenten Zustand der liebevoll lächelnden Glückseligkeit versetzen.
Es ist ungefähr so, als würden um dich herum lauter Buddahs wandeln, vom sanften Licht der Erleuchtung bestrahlt. Und das wäre ja noch nicht mal so schlimm, wenn sie einfach bei sich bleiben würden. Aber natürlich sind sie beseelt von Sendungsbewusstsein, oder besser, der Wurm in ihnen sucht Möglichkeiten, sich zu reproduzieren und andere Menschen ebenfalls zu befallen. Sie wollen mit dir sprechen, sie wollen dich überzeugen davon, wie wunderbar es ist, permanent so glücklich zu sein. Und dann niesen sie dir mitten ins Gesicht.
Mikroskopisch kleine Wurmpartikel wuseln durch deinen Mund, deine Nase, geradewegs in dein Gehirn. Auf deinem Gesicht breitet sich ein seliges Lächeln aus: Du bist ein Smiley.
Es hilft, eine einfache Maske zu tragen, die Mund und Nase bedeckt. Und anfangs taten das auch viele. Aber dann wurde klar, dass das Befallen sein auch Vorteile hat. Der Wurm kontrolliert nämlich deine Gesundheit (in seinem Interesse natürlich). Wer zum Smiley wird, beginnt, sich gesund zu ernähren und Sport zu treiben. Ein Smiley verliert augenblicklich jegliches Interesse an Alkohol, Zigaretten oder anderen Drogen, wird schlank, fit und verbreitet strahlenden Optimismus. Smileys lehnen sich auch nicht auf, warum denn auch, sie sind ja glücklich. Sie machen ihre Jobs, sie funktionieren tadellos, sie halten das System am Laufen und gehen am Wochenende shoppen. Es gibt schon lange keine Gewerkschaften mehr, keine Parteien, es gibt nur mehr ein paar sehr mächtige superreiche Unternehmer (die übrigens ausnahmslos Masken tragen).
Warum das Glück bekämpfen?
Und das Beste (zumindest aus Sicht der Unternehmer) kommt ja noch: Der Wurm verkürzt unsere Lebensspanne. Die Smileys werden nicht älter als fünfzig (bis dahin hat der Wurm sie ausgesaugt). Aber diese fünfzig Jahre verbringen sie in hervorragender Gesundheit als produktive, gutgelaunte Mitglieder der Gesellschaft. Es gibt keine Rentner mehr, die die Rentenkassen belasten, die Arztpraxen füllen, in Altersheimen dahinsiechen und die Sozialgemeinschaft schwächen.
Da freuen sich die Unternehmer in St. Moritz oder wo auch immer sie sich hin geflüchtet haben (auf alle Fälle in die Berge, wegen des steigenden Meeresspiegels).
Ich habe gehört, dass es Menschen gibt, die sich freiwillig für den Wurm entschieden haben. Weil sie die trostlose Gegenwart der sterbenden Welt nicht mehr ertragen. Es soll Wurmpartys (sie nennen es Happy-Events) geben, mit gegenseitigem Anniesen.
Und die wenigen, die es noch nicht erwischt hat, die sich trauen, in der Öffentlichkeit eine Maske zu tragen, denen wird sie öfter abgerissen.
Wer so richtig glücklich ist, möchte eben auch, dass andere glücklich sind.
Ich habe aber auch gehört, dass es Mediziner und Biologinnen gibt, die im Geheimen an einem Gegenmittel arbeiten. Aber das kann natürlich auch nur ein Gerücht sein, dass sich die wenigen Übriggebliebenen erzählen, um nicht völlig zu verzweifeln.
Draußen geht die Sonne unter. Die Smileys freuen sich und zünden die ersten Feuer an. Grillgeruch erreicht uns. Einige hier weinen, sie haben Hunger. Andere stellen sich grimmig entschlossen vor die Bücherregale. Das werde ich auch gleich tun. Als Bibliothekarin werde ich mit meinem Schiff untergehen.
Smileys lesen nicht, zumindest keine Romane. Sie halten das für Zeitverschwendung. Unter den Smileys gibt es auch keine Künstler mehr, keine Maler, Dichter, Schriftsteller. Sie lassen alles schreiben, malen, dichten, von irgendwelchen KIs.
Und wenn das Holz für die Feuer draußen aufgebraucht ist, werden sie hier eindringen und sich die Bücher dafür nehmen.
Aber bis dahin werde ich auch glücklich sein, und dann wird es mir nichts mehr ausmachen. Das hoffe ich jedenfalls, weil … *
*Anmerkung der historischen Gesellschaft: Hier bricht dieses einzigartige Zeitdokument ab. Aus verschiedenen Fragmenten ließ sich rekonstruieren, dass es sich bei der Autorin mit großer Wahrscheinlichkeit um die Bibliothekarin Cora Blau gehandelt hat. Auch wenn das Gegenmittel für sie zu spät kam, wurden durch ihre und die mutigen Taten der verbliebenen Widerstandskämpfer ein Großteil der Bücher für die Nachwelt gerettet. Wir sind ihr zu großem Dank verpflichtet.
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