Mama
„Hoppla, Vorsicht. Nicht stolpern.“
Derek (oder hieß er Donald?) umfasste meine Taille. Es waren nur drei Stufen hoch zu unserer Haustür, aber ich hatte etwas mehr getrunken, als ich sollte. Seine Hände waren kräftig und warm.
„Psst!“ Ich legte meine Finger auf seinen Lippen. „Wir wollen doch meine Mama nicht aufwecken.“
Das Haus ragte dunkel und schweigend über uns auf.
„Bloss nicht“, flüsterte Derek/Donald grinsend.
Es war eine wunderbar laue Herbstnacht, Blätter raschelten, Käuzchen schrien und der Mond hatte eine leicht rötliche Färbung. Ich war die ganze Woche lang schon furchtbar unruhig gewesen und heute hatte mich nichts mehr drinnen gehalten. In der Stadthalle hatte es eine Tanzveranstaltung mit alten Hits gegeben. Derek/Donald hatte mich aufgefordert, als sie Bei mir bist du schön spielten und zum ersten Mal geküsst, als Mein kleiner grüner Kaktus lief. Dann hatte er darauf bestanden, mich nach Hause zu begleiten.
Jetzt küsste er mich erneut.
„Mmhh, du schmeckst nach Kirschen und Sekt, mein Schatz.“
Er schmeckte leider nur nach Bier und Zigaretten. Aber küssen konnte er ganz gut und tanzen noch viel besser. Und ich war hungrig nach mehr.
Derek/Donalds Hände wanderten zu meiner Bluse.
„Wir können auch zu mir gehen“ flüsterte er heiser an meinem Ohr und ein köstlicher Schauer lief meinen Rücken hinunter.
Ich schüttelte bedauernd den Kopf. „Mama kommt alleine nur schwer zurecht.“
Er knabberte an meine Ohrläppchen. „Dann müssen wir eben sehr, sehr leise sein.“
Ich kicherte und biss mir sofort auf die Lippen. Leichter gesagt als getan. Aber es war so lange her und ich fühlte mich so wohl in meiner Haut. So begehrt.
„Also gut. Aber wir müssen mucksmäuschenstill sein, ok?“
„Ehrenwort!“ Derek/Donalds Augen glitzerten. „Das macht alles noch viel spannender“, raunte er, während ich vorsichtig die Haustür öffnete.
„Still jetzt!“
Das kleine Nachtlicht im Flur brannte. Die Tür zum Keller hinunter war angelehnt. Ich bedeutete Derek/Donald, mir zu folgen. Wenn wir es in den ersten Stock und in mein Zimmer schafften, hatten wir eine gute Chance.
Und dann stieß Derek/Donald gegen die Flurkommode und brachte die darauf stehende Vase mit Strohblumen ins Wanken. Sie fiel und zerschellte krachend auf den Dielen.
Derek/Donald erstarrte. Mir blieb vor Schreck die Luft weg.
„Bist du das, mein Kind?“
Die Stimme aus dem Keller klang hoch und leicht verschleimt. Alle Hoffnung brach in mir zusammen wie ein vom Jäger geschossenes Reh.
„Ist das…?“ flüsterte Derek/Donald und blickte zur Kellertür.
Ich nickte.
„Aber warum ..?“ Er deutete auf den Keller.
„Mama mag es dunkel und feucht. Das liegt an ihrem …Zustand.“
Er nickte gewichtig, obwohl er natürlich überhaupt nichts begriff. Das hatte noch keiner vor ihm getan.
„Hast du Besuch mitgebracht?“, wollte Mama von unten wissen.
Ich fragte mich, ob er den leichten Unterton von Gier in ihrer Stimme hören konnte.
„Kriegst du jetzt Ärger?“, erkundigte sich Derek/Donald leise.
Ich zuckte mit den Achseln. Nicht mehr als sonst auch. Es wäre schön gewesen, mal etwas für mich zu haben.
„Lass mich nur machen. Mütter mögen mich.“ Er zwinkerte mir zu. „Ich bin perfektes Schwiegersohnmaterial.“
Und damit hatte er auch schon die Kellertür weiter geöffnet und sich auf die Treppe nach unten begeben.
„Hey, nein, lass das. Du musst nicht … du sollst nicht …“
Er drehte sich kurz um und lächelte mir zu: „Immer mit der Ruhe, sie wird mich schon nicht fressen.“
Ein hysterisches Kichern entwich mir, ich schlug mir sofort die Hand vor den Mund. Derek/Donald marschierte die Stufen hinunter. Ich streckte noch meine Hand nach ihm aus, konnte ihn aber nicht mehr erwischen. Warum musste Mama mir immer alles verderben? Mürrisch stieg ich die Stufen hinunter. Es war so ein schöner Abend gewesen und ich hatte gehofft, einmal, nur einmal, Glück zu haben. Umsonst.
Mama hatte das Nachtlicht brennen lassen. Es flackerte leicht und tauchte den vorderen Teil des Kellers in ein bläuliches Licht. Der hintere war dunkel.
„Schönen guten Abend!“, begann Derek/Donald fröhlich.
Er blickte sich um, dann fragte er mich etwas leiser:
„Wo ist sie?“
Jetzt war es auch schon egal. Ich deutete in die Schatten.
„So ein gut erzogener junger Mann“, blubberte es aus dem Dunkel.
Derek/Donald lächelte. Es sollte sicherlich gewinnend aussehen, aber so ganz überzeugend wirkte es nicht mehr.
„Wonach riecht es denn hier?“, flüsterte er.
Die faulige Mischung aus Fisch und Verwesung fiel mir schon lange nicht mehr auf. Aber Derek/Donalds Gesicht hatte sich leicht grünlich gefärbt.
„Bitte entschuldigen Sie vielmals, dass wir ihre Ruhe gestört haben“, versuchte er es trotzdem tapfer weiter.
„Ich mag ihn“, sagte Mama.
„Ja, natürlich.“ Ich stand am Ende der Treppe, die Arme vor der Brust verschränkt. „Du magst sie alle. Immer geht es nur um dich. Warum darf ich nicht wenigstens einmal auch meinen Spaß haben?“
„Deine Zeit wird kommen, Tochter.“
Derek/Donalds Blick huschte zwischen mir und den Schatten hin und her. Er machte einen Schritt zurück, Richtung Treppe, auf deren unterster Stufe ich immer noch stand.
„Ich hab sie nur nach Hause gebracht und wollte mich gerade verabschieden. Stimmt doch, Süße?“
Ein flehender Blick zu mir. Ich hätte ihm gerne geholfen, wusste jedoch, dass sein Schicksal besiegelt war. Von dem Moment an, als er die Kellertreppe betrat. Aber ich konnte es zumindest versuchen.
„Das stimmt, Mama. Wir gehen jetzt. Dann kannst du noch ein wenig schlafen.“
„Schlafen? SCHLAFEN? Viel zu lange schon schläft und träumt der große Cthulhu in seinem Haus in R‘lyeh, viel zu lange schon sind wir großen Alten zur Untätigkeit verdammt. Unsere Kinder ziehen sich falsche Häute über und frönen den Unsitten des Menschengezüchts. Sieh dich doch nur an!“
Schade. Ich mochte meine blonden Haare, meine blauen Augen und die Kurven. Auch wenn all das Fleisch etwas wabbelig und ungewohnt war. Derek/Donald hatte es jedenfalls gefallen.
„Deine Mutter ist ja völlig durchgeknallt“, stammelte dieser und dann wollte er mich doch glatt umrennen.
Aus dem Dunkel schoß ein glibberiger Tentakel hervor und wickelte sich um sein rechtes Bein. Derek/Donald knallte prompt hin und schlug mit dem Kopf auf den harten Betonboden. Das knockte ihn gründlich aus. Gut für ihn, denn jetzt würde er bestimmt nichts mehr mitbekommen. Und gut für mich. Ich mochte es nicht, wenn sie schrien. Langsam zog ihn der Tentakel zum finsteren Kellerteil hinüber. Ich seufzte, entledigte mich meines Menschenkleides und streckte genüßlich meine Tentakel. Wie kamen die Menschen mit nur zwei Armen zurecht?
Derek/Donald war im Schatten verschwunden.
„Bald ist es soweit“, freute sich Mama. „Bald werden wir auferstehen und dann gehört diese armselige Welt uns.“
Ein feuchtes Reißen und Schmatzen begann. Sie hatte noch nie besonders gute Tischmanieren. Ich überlegte, ob noch Salat im Kühlschrank war. Wenn Mama wüsste, dass ich Veganerin geworden war, würde sie mich wahrscheinlich höchstselbst zerfetzen.
Mama rülpste und spuckte ein paar Knochen aus. Der Abend war gelaufen. Und für weitere Abende sah es auch nicht gut aus.
Ich habe gehört, dass ihr Cousin am anderen Ende der Stadt ebenfalls unruhig wird.
Um es mit einem eurer großen Zauberer zu sagen: Flieht, ihr Narren. Solange ihr noch könnt.
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