Stille Wasser
„Hey, du.“
Alex zuckte zusammen. Er hatte sich im Schilf am Ufer des Badesees versteckt und geheult. Jetzt blinzelte er überrascht in die grelle Augustsonne. Da war ein Mädchen im Wasser. Sie hatte ein blasses, schmales Gesicht, lange braune Haare und Augen so grün wie Waldmeister-Eis.
„Hey“, sagte Alex und schluckte hastig die letzten Tränen herunter.
Das Mädchen musterte ihn neugierig. „Warum hast du Wasser in den Augen, wenn doch alles andere an dir trocken ist?“
Alex wischte sich hastig über das Gesicht. Sie schien ihn nicht auslachen zu wollen, sondern wirklich interessiert zu sein.
Plötzlich sprudelte es aus ihm heraus:
„Meine Mom… dabei bin ich doch nur gestolpert, als ich ihr das Sonnenöl geben wollte. Hab alles über ihr schönes neues T-Shirt gekippt. Dämliches Trampeltier, hat sie gebrüllt. Alle haben es gehört.“
„Du hast eine Mutter?“, fragte das Mädchen.
„Du nicht?“
Sie schüttelte den Kopf. Die kleinen Wassertropfen in ihren Haaren glitzerten wie Gold im Sonnenlicht. „Keine Mutter. Keinen Vater.“
„Ich hab auch keinen Vater. Er ist abgehauen, weil wir ihm zu viel geworden sind.“
Wenn er geblieben wäre, hätten sie es leichter. Oder auch nicht. Vielleicht hätte er Alex auch angeschrien.
„Wozu braucht man Eltern eigentlich?“, wollte das Mädchen wissen.
„Na, jemand muss doch auf dich aufpassen, so lange, bis du erwachsen bist.“
„Ohne Aufpasser ist es viel lustiger“, sagte das Mädchen.
„Das geht doch gar nicht“, meinte Alex.
Sie lächelte und ihre grünen Augen strahlten. „Natürlich geht das.“
„Lebst du etwa ganz alleine?“
„Nein, ich habe viele Schwestern. Die haben mich noch nie beschimpft.“
Ein Leben ohne Eltern, ohne Meckern und herumnerven? Was für eine tolle Vorstellung.
„Komm doch mit, dann zeig ich dir alles. Oder kannst du nicht schwimmen?“
„Und ob ich schwimmen kann!“
Das Mädchen lachte und schnippte ein paar Wassertropfen in seine Richtung. „Na dann, los!“
Sie hatte ein ansteckendes Lachen. Alex merkte, wie er mitlachen wollte. Dann fiel sein Blick auf ihre kleine blasse Hand. Alex dachte sofort an Enten und Schwäne. Nur das die Schwimmhäute des Mädchens viel feiner und heller aussahen.
„Alex? Alex, wo steckst du?“, ertönte eine Stimme weiter weg.
Das Mädchen schreckte zurück. „Wer ist das?“
„Meine Mom.“
Hinter ihnen raschelte es im Schilf. „Alex, es tut mir leid. Ich hätte meinen Frust nicht an dir auslassen dürfen.“
„Jetzt, schnell“, flüsterte das Mädchen. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Durch die Schwimmhäute zwischen ihren Fingern schien mildes Sonnenlicht. Alex hob zögerlich seine Rechte.
„Wir gehen ein Eis essen und dann reden wir“, rief Mom.
Alex senkte seine Hand wieder. Das Mädchen machte schmale Augen und ließ einen enttäuscht zischenden Laut hören. Dann zwinkerte sie ihm zu und tauchte unter.
„Da bist du ja!“, sagte seine Mutter erleichtert. „Hör mal, es tut mir wirklich leid.“
Sie roch nach Kokosöl.
„Krieg ich ein Spaghetti-Eis?“
Mom strubbelte durch seinen Haarschopf. „Na klar.“
Er blickte noch mal kurz zum Wasser, aber da war nichts mehr zu sehen.
„Können wir am nächsten Wochenende wieder kommen?“
„Wenn du willst.“
Er nickte und sie gingen Eis essen.
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Dies war mein Beitrag zur Schreibwerkschau, die einmal im Jahr in der Berliner Humboldt Bibliothek stattfindet.
Teilnehmer der Writers Coaching Kurse von Claudia Johanna Bauer stellten ihre Texte vor und Musik gabs auch.
Für alle, die nicht dabei sein konnten, habe ich meine Geschichte hier noch mal aufgeschrieben.
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Die Story meiner Mitstreiterin Betttina Kerwien kannst du übrigens auch auf ihrem Blog nachlesen: Handarbeit.
Viel Spaß!