Die wilde Jagd
Kurz nachdem sie aus dem Aldi gekommen war, begegnete Emily der wilden Jagd. Vielleicht hätte sie nicht ganz hinten in der letzten Ecke parken sollen.
Es war ein dunkler, nasser, kalter Dezemberabend. Das Jahr starb leise vor sich hin und Emily hatte eben wieder einen Haufen Geld für Lebensmittel ausgegeben. Sie schleppte drei volle, sehr schwere Taschen und einen prall gefüllten Hackenporsche obendrein. Alles für die Silvesterparty. Ein Leichenschmaus fürs alte Jahr, dachte Emily, obwohl Harold das natürlich anders sah. Er hatte ein paar Freunde eingeladen und ein Menü mit fünf Gängen zusammengestellt. Sie wollte nach Hause, alles einräumen und dann in Ruhe ein heißes Bad nehmen. Wenn Harold sie ließ. Und wenn sie hier heil wieder rauskam.
Vor ihr ein Haufen kräftig und gefährlich aussehender Kerle und ein paar Frauen waren auch dabei. Sie saßen auf schwarzen Pferden, die ungeduldig schnaubten, wilde Wölfe strichen umher, Gespenster seufzten und dazwischen blickten ein paar tote Seelen etwas jämmerlich drein.
„Du stehst uns im Weg, Weib!“, grollte der Anführer.
Sein Tonfall erinnerte sie an Harold, wenn er in der Küche eines seiner Meisterwerke komponierte. Er war Hobby-Koch aus Leidenschaft. Unter vier Töpfen und einer Pfanne pro Gericht ging es meistens nicht ab. Und wer musste dafür sorgen, dass hinterher alles blitzblank und abgewaschen war? Seine Ehefrau natürlich. Sie durfte auch bei der Zubereitung helfen. Kräuter kleinhacken, Zwiebeln schneiden und dergleichen mehr. Natürlich immer streng nach Anweisung.
„Das hier ist ein öffentlicher Parkplatz und ihr blockiert mir mein Auto. Husch husch, hinfort mit euch!“ Emily machte eine energisch scheuchende Handbewegung.
Einer der Wölfe knurrte.
„Oha, sie hat Elan!“, sagte der Anführer und schwang sich vom Pferd.
Er war ein großes, breitschultriges Mannsbild mit wild funkelnden Augen, schwarzen Haaren und einem verführerischen Lächeln. Das erinnerte Emily ein wenig an den jungen Harold. Als er noch voller verrückter Träume, Wünsche und Ideen steckte, die er jetzt alle in seine Kochtöpfe rührte und aß. Kein Wunder, dass sein Bauch immer dicker wurde.
„Ich bin Herne, der Jäger. Und das ist meine wilde Schar. Wir reiten im Wind, wir sind frei und ungebunden. Lass deine Lasten fahren und komm mit uns.“
Emily stellte leise seufzend ihre Taschen ab. „Ich bin Emily, Hausfrau, und das ist mein Einkauf. Nimm deine wilde Schar beiseite, damit ich endlich nach Hause und in die warme Badewanne kann.“
Herne näherte sich ihr. Emily schnupperte. Ihn umgab ein Duft nach Wald, Moos und Holz, nach Aufbruch und Lagerfeuer, nach alten Geschichten und neuen Wagnissen. Seine Gegenwart rührte etwas in ihr an, dass zu ihrem Ahnengedächtnis gehörte. Uralte Instinkte wurden wach. Laufen, rennen, fliegen. Leben.
Vielleicht roch sie aber auch nur die große Tüte Kräutermischung in ihrer Einkaufstasche, die es im Sonderangebot gegeben hatte.
„Dies ist eine einmalige Gelegenheit für dich“, sagte Herne mit tiefer Stimme, die durch Emily hindurch vibrierte.
„Ja, normalerweise gehen wir zum Lidl“, bestätigte eine der Frauen.
Wild und frei sein. Kanada, dachte Emily. Sie hatte immer schon mal nach Kanada gewollt. Wilde Wälder haufenweise. Harold fuhr lieber nach Büsum an die Nordsee.
Ein feiner Regen hatte eingesetzt. Eines der Gespenster nieste.
„Wir sammeln verlorene Seelen ein“, sagte Herne bedeutungsvoll.
Seine dunklen Augen schienen bis auf den Grund der ihren zu blicken. Emily spürte etwas in sich regen, dass sich schon lange nicht mehr geregt hatte. Es hieß nicht umsonst, Essen wäre der Sex des Alters.
„Ihr seid also eine Art Fundbüro?“
Herne lachte. „Du gefällst mir, Emily Hausfrau. Wir könnten jemanden mit Humor gebrauchen.“ Er trat noch einen Schritt näher an sie heran. „Ich könnte jemanden mit Humor gebrauchen.“ Betonung auf dem Ich.
Ging es denn wirklich immer nur darum, was so ein Kerl gebrauchen konnte? Eine Frau mit Humor, eine Küchenhilfe mit einem scharfen Messer? Emily war es herzlich leid. Andererseits … er war wirklich ausnehmend attraktiv. Und sie hatte keine Lust mehr darauf, Küchensklavin zu spielen.
„Chef, sie haben mich rausgeschmissen!“ Ein kleiner Kerl mit einem langen grauen Bart kam aus dem Supermarkt getrabt.
„Wie bitte?“, donnerte Herne und drehte sich zu ihm um.
„Der Sicherheitsdienst. Sie sagen, sie lassen sich nicht veräppeln!“
„Ver … was?“
Der kleine Kerl öffnete seine dreckige Hand und ein paar gelbe Klümpchen glitzerten im schwachen Licht der nächsten Laterne. „Sie akzeptieren kein Gold als Zahlungsmittel.“ Er gab Herne die Klümpchen.
„Unser Gold ist ihnen nicht gut genug?“, empörte sich Herne.
Seine wilde Bande murrte und knurrte.
„Ihr wolltet bei Aldi einkaufen?“, erkundigte sich Emily neugierig.
„Auch die wilde Jagd muss essen und trinken. In der Stadt gibt es allerdings weder klare Bäche noch ausreichend Wild“, erklärte Herne.
Emily betrachtete nachdenklich ihre Einkaufstaschen. „Was haltet ihr von Rehrücken, Lachs, Zimtsterne-Eis und Rotkäppchen-Sekt?“
„Ich kenne Rotkäppchen“, sagte Herne. „Die hat ebenfalls Elan. So wie du.“
Emily trat zur Seite und wies auf ihre Einkäufe: „Bitteschön.“
Ein Wolf beschnüffelte gierig ihre Taschen.
„Fenrir, kusch!“, befahl Herne. Er wandte sich ihr zu. „Du bist zu gütig. Aber wovon wirst du leben, Emily Hausfrau?“
„Da macht euch mal keine Sorgen“, sagte Emily.
„Prachtweib!“, sagte Herne und zog sie in eine bärige Umarmung. Emily spürte, wie er flink ein paar Klümpchen in ihre Manteltasche steckte.
„Ladet die Beute auf, wir ziehen weiter!“
Die Einkaufstaschen verschwanden im Handumdrehen. Herne schwang sich auf sein Pferd und warf Emily eine Kusshand zu.
„Leb wohl, du wonniges wildes Weib!“
Emily sah ihnen nach, wie sie im Dunkel der Nacht verschwanden. Er hatte sie wildes Weib genannt. Sie lächelte immer noch, als sie endlich Zuhause ankam. Harold, der mit einem Stapel Kochbücher am Küchentisch saß, blickte ihr erwartungsvoll entgegen.
„Wo sind die Sachen?“, wollte er wissen. „Ich dachte, du warst einkaufen?“
„Ich habe sie für einen guten Zweck gespendet.“
„Du hast WAS?“
„An hungrige Menschen, die es bitter nötig hatten.“
„Du hast ein viel zu gutes Herz.“ Harold klappte ein Kochbuch zu und schüttelte den Kopf. „Was machen wir jetzt Silvester?“
Emily hatte eine Flasche von dem Rotkäppchen-Sekt gerettet. Sie öffnete sie jetzt und goss den perlenden Inhalt in zwei Gläser.
„Wir laden alle wieder aus und bestellen uns Pizza.“
„Aber …“
Sie drückte Harold ein Glas in die Hand. „Weißt du noch, das Silvester im ersten Jahr, als wir uns kennengelernt hatten?“
„Wie könnte ich das vergessen? Die Matratze auf dem Boden und die Tüte mit den Kartoffelchips. Du und ich.“
Sie stießen an.
„Und nächstes Jahr“, sagte Emily, „fahren wir nach Kanada.“
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