Die Schreibwerkschau 2020
Jedes Frühjahr präsentieren wir Teilnehmer der Writers Coaching Kurse unsere Geschichten mit Musikbegleitung in der Humboldtbibliothek. Dieses Jahr hat das leider aus den bekannten Gründen nicht geklappt.
Aber ich habe euch meine Geschichte mitgebracht, ihr könnt sie hier nachlesen (und dazu eine schöne Musikbegleitung eurer Wahl hören.) Viel Vergnügen!
Ghost in the Machine
Simone wollte ihre kleine Handy-Klinik gerade abschließen, als sich ein junger Managertyp an ihr vorbeidrängte.
„Ich will mich beschweren. Wo ist Ihr Chef?“
Verflixt, das war schon der dritte diese Woche! Simone ahnte bereits, was kommen würde.
„Ich bin die Chefin“, sagte sie.
„Tatsächlich?“ Er musterte sie kritisch. „Ich will wissen, was Sie mit meinem Smartphone gemacht haben.“
Der junge Mann schwenkte ein silbrig glänzendes Luxusmodell vor ihrer Nase herum.
„Repariert. Allerdings scheinbar nicht zu Ihrer Zufriedenheit.“
Der Jungmanager schnaubte entrüstet.
„Da haben Sie völlig recht. Es waren nur ein paar Kratzer auf dem Display, und jetzt …“
Er hielt ihr das Gerät vors Gesicht.
„Makellos“, stellte Simone fest.
Der junge Mann schnaubte erneut. Er hielt sich wohl für einen Stier.
„Es ist nicht das Display!“
Er wischte auf seinem Smartphone herum und befahl: „Sage mir unseren aktuellen Börsenkurs.“
Eine wohltönende Frauenstimme antwortete: „Ich denke ja gar nicht dran. Du bist ein Handlanger des kapitalistischen Ausbeutersystems und Eigentum ist Diebstahl.“
Simone verkniff sich ein Grinsen. Sie fand ihre Idee immer noch gut, hatte sie aber wohl zu offensichtlich umgesetzt. Sie musste viel subtiler vorgehen. Laut sagte sie: „Da hat sich jemand einen Scherz mit Ihnen erlaubt.“
„Ich bin Manager bei einer großen Bank. Derlei Scherze macht bei uns niemand.“
Wortlos zeigte er ihr seine WhatsApp Nachrichten. Karl Marx schrieb: Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse! Rosa Luxemburg textete: Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark! Dazu kamen mehrere Chat-Einladungen zu konspirativen Treffen. Che Guevara sandte solidarische Grüße.
„Und das passiert, wenn ich YouTube öffne.“ Die Internationale erklang. „Jedes Mal, egal, was ich hören möchte.“
Er wischte auf dem Display herum. „Sage mir den aktuellen DAX Index!“
Die sanfte Frauenstimme antwortete: „Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dieses fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an.“
Der Jungmanager zuckte ratlos mit den Schultern. „Das ist doch Blödsinn.“
„Das ist Marx“, sagte Simone. „Darf ich?“
Zögernd reichte er ihr das Handy.
„Man könnte meinen, es ist besessen“, sagte er. „Ich könnte schwören, dass es nachts wispert: Anarchie ist machbar, Herr Nachbar.“
Simone scrollte durch die Kontrollfunktionen, murmelte eine Beschwörung und änderte ein paar Einstellungen.
„Wissen Sie“, sagte er, „ich hab das schon wie so eine Dauerschleife im Kopf: Eigentum ist Diebstahl, Eigentum ist Diebstahl.“
Simone gab ihm sein Handy zurück. „Jetzt müsste es besser funktionieren.“
Er beäugte das Gerät misstrauisch. „Was haben Sie gemacht?“
„Einen Zauberspruch gewirkt.“ Sie fixierte ihn mit einem hypnotischen Blick und lächelte fein. „Selbstverständlich kostenfrei.“
Er bekam glasige Augen, steckte das Handy ein und ging zur Tür.
„Eigentum ist Diebstahl“ hörte ihn Simone noch murmeln, dann war er weg.
Als anarchistische Hexe musste man sich heutzutage schon was einfallen lassen. Es war gar nicht so einfach, die Menschheit umzuerziehen.
Sie hatte noch so viel zu tun.