Monster-Weihnacht

Monster-Weihnacht

Bei den Menschen war Weihnachten, der Schnee fiel und draußen im Wald weinte ein Baby. Jedenfalls schien es so. Fleur, die alte Elfe, hörte nicht mehr besonders gut. Sie hatte gerade einen frischen Blütentee aufgebrüht und wollte sich mit dem Mein Schöner Garten Magazin gemütlich an den Küchentisch setzen. Den Sinn des menschlichen Weihnachtsfestes hatte sie noch nie verstanden. Es war nur ein weiterer Tag im Kalender.

Jetzt stand sie da und lauschte.

Es war später Nachmittag, draußen wurde es dunkel. Drinnen, im ersten Stock, konnte sie Marina, die Meerjungfrau in der Badewanne plätschern und leise singen hören.

Im Zimmer über Fleur wanderte Grim, der Werwolf, unruhig auf und ab. Bald war Vollmond, und wenn er sich auch nicht mehr richtig verwandeln konnte, so spürte er es doch immer noch in seinen alten Knochen. Fleur musste demnächst neue Rheuma-Salbe für ihn besorgen.

Wieder erklang das Weinen, diesmal etwas schwächer.

Die Villa Mythos lag außerhalb der großen Stadt, gut versteckt in einem Wald. Ihre Bewohner hielten sich von den Menschen fern. Zu viel schlechte Erfahrungen.

Die Küchentür sprang auf. „Fleur, da ist ein Ding in unserem Wald!“

Die Baumnymphe Grünzweig war aufgeregt hereingestürzt.

„Ein Ding?“

Fleur seufzte. Sie stellte ihren Teebecher ab, legte sich ihren Schal um und ging hinaus, um nachzusehen. Gleich hinter dem Haus, wo der Wald anfing, lag ein Bündel im Schnee. Es sah nach Ärger aus. Fleur erwog einen Moment lang, es einfach liegenzulassen. Dann ertönte ein leises Wimmern. Sie bückte sich, hob das Baby hoch und trug es zurück.

„Du hast es mitgebracht?“

Die Baumnymphe rümpfte angewidert die Nase.

„Schüre das Feuer im Herd“, sagte Fleur.

„Willst du es verbrennen, so wie die Menschen die Wälder verbrennen?“, erkundigte sich Grünzweig interessiert.

Fleur schüttelte den Kopf. Das Baby begann zu weinen.

„Stell es ab!“ Grünzweig steckte sich die borkigen Finger in die Ohren.

„Es ist hungrig“, erklärte Fleur.

Grim, der Werwolf, platzte herein und knurrte: „Ich rieche Menschenfleisch!“ Das Weinen wurde lauter. „Du hast ein Junges angeschleppt?“

„Hol ein paar Wolldecken“, sagte Fleur.

„Niemals! Die Menschen jagen und töten uns seit Anbeginn aller Zeiten. Das Kleine da wird groß und genauso schlimm. Ich werde es fressen!“

„Ungekocht? Das wirst du mit deinem Gebiss wohl kaum schaffen“, meinte Fleur.

„Geröstet!“, schlug Grünzweig vor und warf mehr Holz ins Herdfeuer. Das Baby heulte mittlerweile wie eine Sirene.

„Was ist denn hier los?“ Tropfnass erschien Marina, die Meerjungfrau, in der Küche. „Habt ihr da etwa … ein Menschenkind?“

Grim knurrte, Fleur nickte.

„Ein Exemplar der Spezies, die die Meere verschmutzen und unbewohnbar machen?“

„Genau!“, rief Grünzweig.

„Ich könnte es oben in meiner Badewanne ertränken“, sagte Marina.

„Fressen!“, knurrte Grim.

Fleur wiegte das Baby. Vergeblich.

Grim beugte sich über es, fletschte die Zähne und … das Weinen verstummte. Grim hörte auf, zu knurren. Aus dem Bündel ertönte ein leises Glucksen. Eine kleine rosige Hand kam heraus und zauste den Werwolf am Fell.

„Nimm du es“, sagte Fleur.

„Aber …“

Sie drückte Grim das Baby in die Hand. Die anderen scharten sich um ihn.

„Seine Augen sind so blau wie das Meer“, sagte Marina.

„Guck mal, es lacht“, sagte Grünzweig.

Grim wiegte das Baby sachte.

„Ich könnte die Polizei benachrichtigen“, schlug Fleur vor. „Aber dann werden Menschen hier herumschnüffeln.“

Alle schüttelten sich.

„Es hat eine schöne Gesangsstimme“, sagte Marina. „Ich könnte es zur Sirene ausbilden.“

„Und ich baue ihm eine Borkenwiege“, sagte Grünzweig.

„Was ist mit seinen Eltern?“, gab Fleur zu bedenken.

„Du weißt doch, wie sie sind. Setzten ihre eigenen Jungen aus, wenn sie sie nicht wollen!“, brummte Grim. „Ich werde ihm Jagen und Rudelverhalten beibringen.“

Er starrte verzückt das fröhlich glucksende Kind an.

Fleur seufzte. Sie würde Babynahrung auf den Einkaufszettel schreiben müssen.

Draußen, in der kalten Winternacht, ging ein kleiner Stern auf.