Die Peitsche, die Katze und das Buch
Mila suchte nichts Bestimmtes in der Bibliothek. Nur ein Buch, das sie aus dem Alltag entführte. Mit Abenteuern und fremden Ländern, einem Bösewicht und einer Liebesgeschichte zum Mitfiebern. Sie ließ ihre Finger über Buchrücken gleiten.
Im zweiten Gang stand eine kleine, schwarz gekleidete Person neben einem Bücherwagen und sortierte Zurückgebrachtes in die Regale.
„Was wollen Sie?“
Die Stimme klang alt und rostig, der Tonfall giftig.
„Was Spannendes, mit einer Romanze.“
Die kleine Person musterte Mila von oben bis unten und kicherte.
„Das glaube ich.“
Links neben ihr saß eine schwarze Katze, die sich selbstvergessen die Pfoten putzte. Ehe Mila sich wundern konnte, dass Tiere in der Bibliothek erlaubt waren, sauste etwas Braunes auf sie zu. Mila fing das Buch reflexartig auf. Es war in abgegriffenes Leder gebunden. Sie blickte hoch. Die kleine Person war verschwunden, die Katze ebenfalls. Nur ein Geruch nach altem Papier, Leder und Räucherwerk hing in der Luft.
Das Buch war in einer ihr fremden Sprache verfasst. Sie würde es an der Information abgeben und sich über die Mitarbeiterin beschweren, die Bücher nach den Besuchern warf.
„Das gehört mir.“
Mila drehte sich um. Hinter ihr stand ein dünner Mann in einem dunklen Ledermantel. Er hatte grüne Augen, die wie ferne Planeten leuchteten.
„Gib her!“
Mila streckte ihre Hand aus, als sie einen Lufthauch spürte und etwas kurz vor ihr durch die Luft zischte. Das Buch verschwand.
Auf dem obersten Regal hockte eine Frau in grüner Cargohose und weißer Bluse. Sie trug eine Peitsche in der Rechten, deren Ende um das Buch gewickelt war.
„Kommt nicht infrage!“, rief sie und ergänzte, zu Mila gewandt: „Sonst zerstört er die Welt, und das wollen wir ja nicht, oder?“
„Du schon wieder“, knurrte der dünne Mann.
Er krallte eine lederbehandschuhte Hand um Milas Hals.
„Gib es mir, oder ich töte dieses Menschlein.“
„Dramaqueen“, sagte die Frau und sprang vom Regal.
Vor Milas Augen explodierten Sterne und gerade, als sie dachte, es nicht mehr aushalten zu können, ließ der Druck nach.
„Halt mal.“
Mila spürte den schmalen Ledereinband, hustete, öffnete die Augen. Die Peitschenfrau und der Ledermantelmann kämpften in der Bibliothek. Regale wankten, fielen um.
„Wo ist das Buch?“, rief der Ledermantelmann.
Beide kamen auf Mila zu, die mit dem Rücken zur Wand stand. Aber da war noch jemand neben ihr. Ein Mann mit strubbeligem Haarschopf und Grübchenlächeln, der Jeans, Weste und einen Revolver trug.
„Komm mit mir, wenn du leben willst!“
Vor ihnen fiel ein Buch aus dem Regal und klappte auf.
„Abenteuer, fremde Länder, Romanze und Bösewichter?“
Er zwinkerte ihr zu. Endlich jemand, der wusste, was sie wollte. Mila nahm seine Hand und ließ sich von ihm in das Buch hineinziehen. Peitschenfrau und Ledermantelmann sprangen hinterher.
Die Katze schlenderte heran und klappte das Buch zu.
Eine kleine, schwarz gekleidete Person kicherte, schnippte mit den Fingern und das Chaos verwandelte sich in Ordnung.
In Bibliotheken kann alles passieren.
Ich habe Sie gewarnt!
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Diese Geschichte schrieb ich für die Schreibwerkschau 2023 der Writers Coaching Kurse von Claudia Johanna Bauer an der Berliner Humboldtbibliothek.
Es war ein Abend voller unterschiedlichster Texte und Szenen, überraschend, skurril, humorvoll und bewegend. Wir Schreiberlinge sind teilweise schon seit 10 Jahren dabei und mittlerweile zu einer tollen Gruppe zusammengewachsen, in der wir uns gegenseitig unterstützen. Einen Büchertisch unserer bisher entstandenen Werke ist jedes Mal dabei und immer besser gefüllt.
Ich freue mich schon aufs nächste Mal.
Hier noch ein paar Fotos (danke, Bettina Kerwien):
Mehr von meinen Kurzgeschichten gibt es auch hier unter Phantastischer Montag nachzulesen. Und wenn du jetzt interessiert bist und wissen möchtest, was sonst noch so los ist, dann abonniere doch gerne meinen Newsletter. Ich freue mich auf dich.